"You can imagine the opposite." Seit dem Jahr 1991 ist dieser Satz an der Fassade des Münchner Lenbachhauses zu lesen. "Du kannst dir das Gegenteil vorstellen." Der Satz ist nicht einfach ein Satz, sondern ein hellblau leuchtendes Kunstwerk aus Neonröhren. Geschaffen hat es der Italiener Maurizio Nannucci.

Bei Kunstwerken muss man ja immer ein bisschen auf der Hut sein, ob sie wirklich das meinen, was sie zu sagen scheinen. Ungeachtet dessen lösen die Worte am Lenbachhaus immer, wenn ich sie an einem der schönsten Orte Münchens vor mir sehe, etwas in mir aus. Sie versetzen mich in die Möglichkeit der Trostlosigkeit und von dort sofort wieder zurück ins Gottseidankgefühl des Hier und Jetzt.

Es kann sein, dass die Neonbuchstaben das gar nicht wollen. Vielleicht möchten sie nicht, dass ich dem mulmigen Gefühl der Vorstellung des Gegenteils entrinne. Im Gegenteil. Vielleicht möchten sie mahnend und leuchtend wachhalten, wie wenig leuchtend es anderswo zugeht und dass auch in dieser privilegierten Weltgegend lichtlose Tage kommen könnten und kommen werden und dass jede gute Gegenwart das Gegenteil einer unguten Vergangenheit ist.

Doch wie auch immer. Das leuchtende Neonröhrenband stupst mich jedenfalls jedes Mal von neuem hinein ins Nachdenken über das eigene Leben, über das Leben der Anderen, über andere Gegenwarten und andere Möglichkeiten. Über Sein oder Nichtsein. Wir können uns das Gegenteil vorstellen. In der Tat. Das Gegenteil zu was auch immer.

Ein gelbes Haus, am Eingang eine Treppe und Säulen
Ein Haus, mit einem Balkon, daran die blaue Neonleuchtschrift "You can imagine the opposite"
Leuchtschrift an einem Haus "You can imagine the opposite"

 

Was ist eigentlich das Gegenteil von Hochzeit? Um diese Frage zu beant­wor­ten, muss man das Wort Hochzeit anders als gewohnt aussprechen. Und zwar mit langem statt kurzem o. Hooochzeit, das ist die schlechthin außeralltägliche, leuchtendstmögliche Zeit. High Life sozusagen. Und das Gegenteil der Hochzeit, das sind die sattsam bekannten Niederungen des Alltags. Die deprimierenden Phasen des Lebens. Die schwerkraft- und schwermutverstärkenden Augenblicke der Normalität und der Realität, zu deren Wesen es zu gehören scheint, nicht aus der Welt zu schaffen, also unheilbar zu sein. Bezeichnenderweise warb ein großer Streamingdienst vor einiger Zeit mit dem Slogan "Realität ist heilbar". Das wäre auch ein perfekter Slogan für eine der zahllosen Firmen, die sich neuerdings darauf spezialisiert haben, für Traumhochzeiten zu sorgen.

Natürlich verbirgt sich in der Sehnsucht nach der Traumhochzeit letztlich die Sehnsucht nach dem Traumleben. Nach dem vollkommenen, ungetrübten Glück. Nach dem nicht endenden Höhepunkt. Nach dem Dauerorgasmus. Nach dem Zustand, den es nicht gibt. Hochzeit, das ist nicht einfach ein Fest. Oder anders gesagt: es ist das Fest der Utopie eines ganz anderen, vor jeglicher Alltagsentzauberung gefeiten Lebens. Es fällt uns naturgemäß nicht schwer, uns das Gegenteil dieses zauberhaften Lebens vorzustellen. Und zwar deshalb, weil es das Leben ist, das wir tagtäglich zu leben haben. Das Leben, das weiter geht, als es erlaubt sein sollte. Das Leben auf dem Boden der Tatsachen.

 

Nimmt man das Wort high wörtlich, dann bezeichnend es einen Zustand, der uns über die Niederungen der Erdenschwere erhebt. Wer high ist, scheint zu schweben. Zumindest ein wenig. Und wer einen Sinn für Religion hat, wird sich das Gefühl nicht nehmen lassen, dass high "himmelwärts" meint. Wer high ist, also eine hohe Zeit erlebt, ist dem Himmel näher, also buchstäblich entrückt.

Vielleicht steckt in der himmelblauen Neonschrift am Münchner Lenbachhaus ja noch ein ganz anderer Sinn. Nicht nur ein Hintersinn, sondern ein Übersinn. "You can imagine the opposite." Du bist auf Erden. Selbst in München. (Das sei allen München-Fans gesagt, die sich in München im Himmel zu wähnen pflegen.) Du bist auf Erden. Aber du könntest dir den Himmel vorstellen und für einen kurzen imaginativen Augenblick sozusagen zum Münchner oder zur Münchnerin im Himmel wer­den. Du könntest dir vorstellen, wie es wäre, wenn das Leben zur Hochzeit (nicht vergessen: langes o!), also zu einer Art immerwährender Himmelfahrt würde.

Wenn man sich ein wenig in die Kulturgeschichte der Hochzeit vertieft, dann stößt man auf auf ein interessantes Phänomen. Das Wort Hochzeit hat nämlich eine religiöse, genauer gesagt eine christliche Herkunft. Bis in die Mitte des 11. Jahrhunderts war es ausschließlich geistlichen Hochfesten vorbehalten. Also zum Beispiel Weihnachten, Ostern und Pfingsten. Hochzeiten, das waren die Feste, in denen sich aus christlicher Sicht etwas davon reflektierte, dass der Himmel auf die Erde kommt. Weil man in der Welt des christlichen Mittelalters der Überzeugung war, Christus selbst sei das eigentliche Geschenk des Himmels, konnte man diese Hochzeiten feierlich, genussreich, ausgelassen, sinnlich oder besinnlich begehen, ohne sich damit übernehmen zu müssen, das ganze Leben zum Himmel auf Erden machen zu wollen.

So lange das christliche Abendland den Glauben nicht verloren hatte, dass die Welt in Christus transparent geworden war für die Transzendenz Gottes, musste das Dasein nicht um jeden Preis zum geilstmöglichen, glänzenden Ort werden. So lange das Gefühl für die Anderswelt Gottes noch lebendig war, konnte man die geistlichen Feste als Ausnahmetranszendenzen, genauer gesagt als Vorschein der Erlösung feiern und genießen.

 

Erst am Ende des Mittelalters, im späten 15. Jahrhundert, also am Vorabend der Reformation, finden sich Belege dafür, dass das Wort Hochzeit auch das Fest der Eheschließung und die Eheschließung selbst bezeichnete. Zwar hält die römisch-katholische Kirche bis heute an der Überzeugung fest, dass die Ehe ein Sakrament und jede Eheschließung daher ein zutiefst geistlicher Anlass und demnach ein geistliches Fest ist. Jede Ehe versinnbildlicht in der lateinischen Welt die unverbrüchliche Gemeinschaft von Christus und seiner Gemeinde. Sobald der Reformator Martin Luther die Auffassung losgetreten hatte, die Ehe sei ein "weltlich Ding", war allerdings der Ring frei für die Säkularisierung, also für die Verweltlichung eines Wortes, das einst die Gegenwart des Heiligen markiert hatte.

Das ist allerdings nur eine Seite der Medaille. Es kommt nämlich in der Neuzeit nicht nur zu einer Profanisierung des Heiligen, sondern auch zu einer Sakralisierung des Profanen. Eigentlich ist die Säkularisierung nur Schein. Denn gerade das Leben, das zur Hochzeit (mit langem o) werden und mit maximalem persönlichen Glück den trostlosen gesellschaftlichen, ökologischen, ökonomischen, sozialen und politischen Narrativen und Zukunftsängsten trotzen soll, saugt sich in einer nachchristlichen und religionsvergessenen Welt voll mit Transzendenzträumen.

Der französische Philosoph Tristan Garcia hat dies vor einigen Jahren in seinem schönen Buch "Das intensive Leben. Eine Obsession" scharfsichtig registriert. "Die liberale westliche Gesellschaft", so Garcia, verheißt uns seit Jahrhunderten, dass wir "intensive Menschen" werden.

"Oder genauer gesagt: Menschen, deren Lebenssinn in der Intensivierung aller Vitalfunktionen besteht. Die moderne Gesellschaft verspricht den Einzelnen nicht mehr ein anderes Leben oder ein seliges Jenseits, sondern lediglich das, was wir schon sind – mehr und besser … Was uns als erstrebenswertes Gut angeboten wird, ist eine Steigerung unserer Körper, eine Intensivierung unserer Freuden, unserer Liebesgefühle und Emotionen … Seit einigen Jahrhunderten verkörpern wir einen bestimmten Menschentypus: Menschen, die eher für das Streben nach Intensivierung als nach Transzendenz – wie dies für die Menschen anderer Zeitalter und Kulturen galt – herangebildet wurden."

Kein Wunder also, dass die Traumhochzeit zum Transzendenzersatz und das Beziehungsglück zum säkularen Äquivalent des Wunders wird.

Tristan Garcia zufolge ist die Schattenseite der Intensität dabei allerdings vorprogrammiert. "You can imagine the opposite." Das mit glühenden Gelingenserwartungen, Intensitäts- und Idealisierungsphantasien überladene Leben droht um so leichter in sich selbst zusammenzustürzen, sich selbst zu verzehren und in Depression, Erschöpfung und Burnout zu enden. Zumindest vorübergehend. Also so lange, bis das Spiel des intensiven Lebens wieder von vorne beginnt. Mit der Flucht in neue Intensitäten und neue Transzendenzen aus dem Alten. Mit Seitensprüngen ins normalitätsungetrübtere Glück.

All das ist menschlich. Menschlich ist die Sehnsucht nach Hochgefühlen, nach Erfüllung und nach der tiefen Ewigkeit der Lust. Menschlich ist die Sehnsucht nach einem Leben, in dem uns die Liebe vergessen lässt, dass wir endlich sind. Menschlich ist die Sehnsucht, vom Engel der Erlösung angerührt und in den siebten Him­mel auf Erden versetzt zu werden. Menschlich ist die Sehnsucht, Hochzeiten als magische Beschwörungen des Lebens- und des Liebesglücks zu feiern. Mensch­lich ist der Traum, dass von der festlichen Ausnahme ein Funke überspringt auf die Regel des Alltags. Menschlich ist die Hoffnung, dass die Erinnerung an die Hochglanzhochzeit die Glanzlosigkeit des Alltags überstrahlt und dem Beziehungsleben vielleicht doch lebenslang unauslöschlichen Glanz verleiht.

In guten und in bösen Tagen

Wenn ich Paaren, die von ihrer Traumhochzeit träumen, einen einzigen Rat zu geben hätte, müsste ich übrigens nicht lange überlegen. Für den Fall, dass sie sich zu einer kirchlichen Trauung entscheiden, würde ich ihnen wünschen, dass sie bei der Traufrage auf einer sehr sperrigen, sehr altertümlichen, aber womöglich auch sehr heilsamen Formulierung bestehen. Die Formulierung, die ich meine, lautet: "in guten und in bösen Tagen". Und sie hat sehr viel mit dem Neonröhrensatz des Kunstwerks am Münchner Lenbachhaus zu tun. Denn in der Frage, ob die beiden, die sich einander da anvertrauen, in guten und in bösen Tagen füreinander da sein wollen, ist dieser Satz gewissermaßen eingebaut.

"You can imagine the opposite." Lasst euch nicht vom Traumbild des intensiven, hochzeitlichen Lebens blenden, damit ihr nicht in einem Alptraum aufwacht, in dem alle Niederungen und alles Nichtrosarote am Ende zur tödlichen Gefahr für eure Beziehung werden. "You can imagine the opposite." Bedenkt, dass auch das Gegenteil des Glücks zum Leben und zur Liebe gehört. Es könnte sein, dass ihr allem Schweren zum Trotz leichter miteinander durch böse Zeiten und finstere Täler gehen werdet, wenn ihr dem Unglück nicht die Macht gebt, eurem Miteinander und Füreinander ein Ende zu machen. Und es könnte sogar sein, dass ihr noch leichtfüßiger miteinander unterwegs sein werdet, wenn ihr auch eine ganz andere Wahrheit als Mitgift im Gepäck habt. Die Wahrheit, die auch das schwermütigste Herz höher schlagen lässt. Die Wahrheit, die das vollkommene Gegenteil ("the opposite"!) aller Wahrheiten der Welt ist. Die Wahrheit, dass weder Hohes noch Tiefes noch Tod noch Leben euch von der andersweltlichen Liebe Gottes zu trennen vermögen.

Eigentlich wollte ich ja keine Traupredigt, sondern eine Kolumne schreiben. Und so bitte ich um Nachsicht, dass am Ende der Pfarrer mit mir durchgegangen ist. Ich finde aber, es gibt Schlimmeres.

Amen ;-)

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