In den Morgenstunden des 1. Juni 1986 raste der österreichische Automobilrennfahrer Jo Gartner in Le Mans mit über 300 Stundenkilometern in eine Leitschiene. Sein Wagen brannte aus. Jo Gartner starb innerhalb von Sekunden. Er wurde zweiunddreißig Jahre alt. Auf seinem Grabstein im Döblinger Friedhof in Wien steht ein Satz des spanischen Literaturnobelpreisträgers Juan Ramon Jiménez.

Er lautet: "Wenn man dir liniertes Papier gibt, schreib quer über die Zeilen."

Zweifellos ist es in so ziemlich jeder Hinsicht weniger gefährlich, sich vorsichtig innerhalb der Leitplanken zu bewegen, vorschriftsmäßig keine Linie – sei sie weiß, gelb oder rot – zu überfahren, sich in erwarteten Meinungskorridoren aufzuhalten und ein linientreues Leben zu führen. Aber zweifellos hat der Franziskanermönch William von Baskerville alias Sean Connery recht. Der sagt in Jean-Jacques Annauds Film "Der Name der Rose", der im Jahr von Jo Gartners Unfalltod in die Kinos kam, zu dem Hals über Kopf und aussichtslos verliebten Novizen Adson von Melk:

"Wie friedlich wäre das Leben ohne die Liebe, Adson. Wie sicher. Wie ruhig. Und wie langweilig."

Die Witwe eines tödlich verunglückten Rennfahrers fragt in einem anderen Film – er heißt "Le Mans" – einen anderen Rennfahrer: "Wenn Menschen ihr Leben riskieren, sollten sie das nicht wenigstens für etwas sehr Wichtiges tun?" Der Renn­fah­rer, Steve McQueen, zuckt nur mit den Schultern. "Rennen fahren", sagt er, "ist Leben."

Man könnte jetzt seitenfüllend und kontrovers darüber diskutieren, ob es nicht nur eine moralische Pflicht zum Schutz des Lebens Anderer, sondern auch eine moralische Pflicht zur Bewahrung des eigenen Lebens gibt. Fakt jedenfalls ist, dass viele Menschen zur Intensitätssteigerung ihres Lebens dieses Leben für etwas aufs Spiel setzen, über das Andere posthum nur den Kopf schütteln können, weil es ihnen als gewaltige Dummheit, als schwachsinnig, wenn nicht sogar sinnlos erscheint. So abgedroschen der Spruch auch sein mag, er könnte wahr sein. "No risk, no fun." Auch, wenn Automobilhersteller mittlerweile daraus den Slogan gemacht haben:

"No risk, just fun." Aber es hilft eben nichts. Ein risikoloses Leben wäre letztlich kein Leben. Sicher ist nur der Tod.

Ich bin weiß Gott kein mutiger Mensch und war es auch früher nicht. Und doch habe ich als Junge bei fast jeder Gelegenheit meine Ferien im Wald verbracht, bin mit meinen Freunden auf Bäume geklettert, habe Messer gewetzt, Pfeil und Bogen geschossen und wie ein Irrer Fußball gespielt. Ich stand in Toren, deren Pfosten nicht rund, sondern eckig und scharfkantig waren. Und weder meine noch andere Eltern haben sich darum geschert. Niemand wäre auf die Idee gekommen, uns zu beaufsichtigen und in Watte zu packen. Ich danke meinem Herrgott, dass ich in den siebziger und achtziger Jahren aufwachsen und Kind einer Zeit sein durfte, in der noch niemand wusste, dass einmal eine Generation heranwachsen würde, die man als "Schneeflocke" bezeichnen würde. Und natürlich danke ich meinem Herrgott auch dafür, dass damals nichts passiert ist.

Unlängst erhielt ich lange nach Feierabend eine dienstliche Mail, die aufgrund einer Straßenglättewarnung die Verlagerung aller Dienstbesprechungen und Lehrveranstaltungen in den digitalen Raum ankündigte. Ich schrieb – zugegeben ein wenig unreif – provozierend zurück: "Wenn wir uns schon vor Glatteis fürchten, wie wollen wir da Krieg gegen die Russen führen?" Na ja.

Der Psalm 139 und Ostern

Jedes Mal, wenn ich den 139. Psalm bete, stutze ich an einer Stelle. Ich frage mich, ob der Verfasser dieses Psalms nicht vielleicht doch eine Art Risikosportler einer Zeit war, die weder das Wort Sport noch Motoren, geschweige denn Flug­zeuge kannte. Vielleicht war er sogar ein besonders tollkühner Risikosportler. Im neunten und zehnten Vers seines Psalms schreibt er:

"Nähme ich Flügel der Morgenröte und flöge ich zum äußersten Meer, so würde auch dort deine Hand mich führen und deine Rechte mich halten."

Mir könnte auch dann nichts geschehen, wenn ich wie der hochfliegende Ikarus von der Sonne versengt und auf den erbarmungslosen Boden der Tatsachen hinabstürzen würde. Wenn ich auf liniertem Papier quer über die Zeilen schreiben würde, wäre mir womöglich erst mulmig zumute und ich würde seekrank werden. Aber irgendwann würde ich sie spüren, die große Freiheit und Furchtlosigkeit angesichts des offenen Meeres. Und vielleicht würde ich als Christenmensch sogar das Gefühl haben, dabei auch ein bisschen im Rückenwind und im Auftrag meines Herrn unterwegs zu sein. Zweifellos war ja auch Christus keiner, der auf dem linierten Papier schrieb, das ihm die führenden religiösen Geister seiner Zeit hinhielten. Sein Verhältnis zu den Vorschriften seiner Religion dürfte ­– vorsichtig gesagt – kein unproblematisches gewesen sein. Jedenfalls kam er den Autoritäten und Instanzen seiner Gegenwart so in die Quere, dass ihn das ins Grab brachte.

Der österreichische Automobiljournalist Kurt Molzer fragt am Ende eines so gruseligen wie anrührenden Textes über seine auf der Strecke gebliebenen Landsleute:

"Kann es etwas Widersprüchlicheres geben als einen im Lärmhimmel und im Geschwindigkeitsrausch der Formel 1 beheimateten Rennfahrer in der Bewegungslosigkeit und Totenstille seines Grabes?"

Ich finde ja, dass das eine geradezu österliche Frage ist. Kann es etwas Widersprüchlicheres und Unvorstellbareres geben als den toten Christus im Grab? Kann der, der quer über die Zeilen schreibt und widerborstig, vital und passioniert zwischen den Welten unterwegs ist, wirklich definitiv vom Koordinatensystem unserer linierten Realität eingekastelt werden?

Weiß Gott nicht. Er wird die Flügel der Morgenröte nehmen und Vollgas geben. Und wir werden über ihn singen:

"Er war ins Grab gesenket, / der Feind trieb groß Geschrei; / eh er’s vermeint und denket, / ist Christus wieder frei / und ruft Viktoria, / schwingt fröhlich hier und da / sein Fähnlein als ein Held, / der Feld und Mut behält."

Fröhliche Ostern!

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