ADHS - vier Buchstaben, die es in sich haben. Für die ganze Familie. "Vier verflixte Buchstaben, die trauriges Schicksal oder kreatives Potenzial, Chaos oder Chance bedeuten können. Auf jeden Fall stehen diese vier Buchstaben für viele Missverständnisse", schreibt die Ulmer Kultur- und Tanzpädagogin, Ursula Frühe, in ihrem Buch "Neuronengewitter", das am Montag im Patmos-Verlag (Ostfildern) erscheint.

Die Autorin weiß, wovon sie spricht, da zwei ihrer drei Söhne ADHS haben. Und obwohl schon so viel über die "Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung" kurz ADHS, gesagt und geschrieben wurde, vermisst sie in der Diskussion die Sichtweise der mit-betroffenen Mütter, die tagtäglich einen einsamen Kampf zu kämpfen haben: "Wir sind neben unseren Kindern Hauptbetroffene vom Dauerbetrieb ihres nimmermüden Synapsenfeuerwerks, dem Neuronengewitter in den Kinderhirnen."

Missverständnisse über die Erkrankung 

Außerdem kämpfen Eltern, weiß Frühe, auch gegen das Missverständnis, dass die Erkrankung ein Ergebnis schlechter Erziehung ist. Dabei besteht bei einer ADHS unter anderem eine neurobiologische Fehlregulation des wichtigen Neurotransmitters Dopamin, stellt sie klar.

"Da der wichtige Botenstoff Dopamin primär unseren Antrieb und unserer Motivation zum Handeln befeuert, ist es bei einem fehlregulierten Spiegel unmöglich, von außen gestellte Anforderungen und Aufgaben adäquat zu erfüllen. Das Gehirn ist, grob gesagt, unterstimuliert, die reizauslösenden Schwellen zur Weiterleitung werden nicht erreicht, besonders nicht bei monotonen Pflichten und langweiligen Tätigkeiten."

Konzentrationsschwierigkeiten haben Folgen für die Leistungen in der Schule und die zum Teil sehr ausgeprägte Impulsivität für das soziale Miteinander: Wenn der "Wutvulkan" explodiert, und es zu Schimpfwort-Kaskaden oder Handgreiflichkeiten kommt, dann leiden die Kinder oft selbst am meisten, weil sie sich dafür hassen und sich selbst abwerten.

Ein Gefühl von einem Neuronenfeuerwerk 

Laut aktuellen Schätzungen sind mindestens fünf Prozent der Kinder von ADHS betroffen. "Doch wie erzieht man so ein Kind, das seinem eigenen Neuronenfeuerwerk ohnmächtig ausgeliefert ist?" Sie empfiehlt, die Einnahme von Medikamenten, wie Ritalin, nicht zu verteufeln. Ihre Kinder bekamen durch die Medikamentengabe die Möglichkeit, eine ihrer Intelligenz angemessene Schule zu besuchen und soziale Integration und Anerkennung zu erfahren.

Ein weiteres, wichtiges Argument: "Die Behandlung mit Stimulanzien im Kindesalter verringert das spätere Risiko einer Suchterkrankung". Denn ADHS-Patienten ohne Medikamente, stehen laut der Autorin in Gefahr, dass sie so sehr unter der inneren Unruhe leiden, dass sie zu allen zugänglichen Mitteln im Sinne einer Selbstmedikation greifen.

Besonders wichtig für ADHS-Kinder: Viel Sport und wenig Bildschirmzeit: "

Da ADHS ein Synonym für permanente Reizüberflutung ist, brauchen sie Reizreduktion. Computerspiele und Medienkonsum, bei denen sie schnellen Bilderwechsel verarbeiten müssen, ist für ihr Gehirn reinster Stress."

Als Jugendlicher stürzte ihr ältester Sohn in eine Krise: Er litt so am Leben, dass er sich selbst Wunden zufügen musste, ist für einige Zeit in der Klinik. Das bringt Frühe an ihre eigene Grenze: Sie hat eine "reaktive Erschöpfungsdepression".

"Ohne den Grundgedanken an einen höheren Beistand, nennen wir ihn Gott, wäre ich wahrscheinlich vollends zusammengebrochen", schreibt sie. "Oft saß ich in einer Kirche, egal wo, habe eine Kerze angezündet, mich in eine Bank gesetzt und für einen guten Verlauf gebetet. Was ich mit Sicherheit weiß: Mir ginge es jedes Mal danach ein bisschen besser."

Sie lernt: "Ich kann von der mit-leidenden Mutter zur mit-fühlenden Mutter werden, die aktiv werden kann, weil sie nicht mehr in ihrem eigenen Leid gefangen ist."

So kann sie an die gesunde Entwicklung ihres Kindes trotz und mit seinem Handicap namens ADHS glauben. Tatsächlich schafft ihr ältester Sohn den Weg zurück in die Schule. Er geht gestärkt aus dieser Krise heraus und ist "ein junger Mann mit allen Möglichkeiten" geworden.

Der Wunsch nach Akzeptanz 

Sie träumt davon, dass sich gesellschaftlich etwas tut: Dass in Zukunft ADHS wie eine Arthrose akzeptiert wird und es für alle Kinder eine unaufgeregte Früherkennung und Diagnostik ab dem Schulalter gibt und eine auf sie zugeschnittene, optimale Förderung.

Noch sind die "Neuronengewitter" nicht ganz vorbei, schließlich gibt es in ihrem Haus noch einen Sohn mit ADHS. "Eine Pubertät der impulsiven Variante steht uns noch bevor". Doch sie blickt optimistisch in die Zukunft: Die Pubertät werde sicher wieder "eine echte Wundertüte."

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