Mit 13 wunderte sich Angelika Dripke, wie Menschen eigentlich einem Beruf nachgehen können. Denn nach der Schule war sie oft so müde, dass sie zu Hause gleich einschlief.
"Ich wusste immer schon, dass ich anders bin als andere Leute", sagt die Wiesbadenerin. Routinearbeiten zu organisieren, fiel ihr zuweilen unglaublich schwer. Manchmal erinnerte sie sich an einfache Dinge nicht mehr, und in Stresssituationen wusste sie sich gar nicht mehr weiterzuhelfen.
Dennoch dauerte es viele Jahre, bis ihr ein Arzt erklärte, warum sie sich oft vorkam wie eine "Mimose mit Vorschlaghammer". Erst mit 45 erfuhr sie, dass bei ihr eine Aufmerksamkeitsstörung (ADHS) vorlag. Dripke reagierte auf bemerkenswerte Weise: Sie zog einen Schlussstrich unter ihr vorheriges Leben in einer PR-Agentur, absolvierte ein Medizinstudium in Prag und arbeitet heute an der Rheinhessen-Fachklinik in Alzey in der Klinischen Forschung mit Schwerpunkt ADHS. Außerdem engagiert sie sich in einer Mainzer Selbsthilfegruppe, die Betroffene, Angehörige und Lehrkräfte berät.
Über zwei Prozent der Erwachsenen betroffen
Viel zu lange galt die Aufmerksamkeitsstörung - in der eher "verträumten" Form auch unter der Abkürzung ADS oder, verbunden mit Hyperaktivität, als ADHS bekannt - als Störung, die vor allem im Kinder- und Jugendalter auftritt. Zur Therapie eingesetzte Stimulanzien wie Methylpenidat, das unter dem Handelsnamen Ritalin vertrieben wird, dürfen erst seit 2011 bei Erwachsenen eingesetzt werden. Im Jahr 2021 hatten nach Angaben der Barmer Krankenkasse bundesweit 0,8 Prozent aller Erwerbstätigen eine ADS- oder ADHS-Diagnose, in Rheinland-Pfalz lag der Anteil bei 1,1 Prozent. Studien zufolge könnten aber weit über zwei Prozent der erwachsenen Bevölkerung betroffen sein.
"Je nach Lebensphase können die ADHS-Symptome bei Erwachsenen unterschiedlich stark ausgeprägt sein", sagt Barmer-Landesgeschäftsführerin Dunja Kleis. "In manchen Jahren fallen sie gar nicht weiter auf, in anderen werden sie zur unerträglichen Last."
Viele ADHS-Patienten würden allerdings gar nicht oder falsch therapiert, bedauert Angelika Dripke:
"Manche werden jahrzehntelang wegen Depressionen oder Zwangsstörungen behandelt, haben zehn verschiedene Antidepressiva durchprobiert."
Die Mittel würden zwar die Stimmung vorübergehend aufhellen, aber das Problem nicht lösen. Verhaltenstherapien seien prinzipiell richtig, aber Menschen mit ADHS könnten die Vorschläge ohne medikamentöse Behandlung mit Stimulanzien oft nicht konsequent umsetzen. Angelika Dripke selbst hat sich einige Verhaltensregeln antrainiert, um ihr gestörtes Zeitgefühl auszugleichen und bei Stress auf der Arbeit nicht aus der Fassung zu geraten.
Stärken von Betroffenen besser nutzen
Als Ursache für die Erkrankung gilt inzwischen eine neurologische Störung beim Übertragen von Signalen in den Nervenzellen des Gehirns. Manche Menschen können trotz der Einschränkungen ein weitgehend normales Leben führen, andere scheitern an alltäglichen Dingen. Ein Bekannter, schildert Dripke, wechsele regelmäßig den Job, weil ihn die Dokumentationspflichten am Arbeitsplatz überforderten. Irgendwann würden sich jedes Mal so viele überfällige Berichte bei ihm aufhäufen, dass er sich nicht anders zu helfen wisse, als zu kündigen.
Von Wirtschaft und Gesellschaft wünscht sich die Medizinerin, dass sie die Stärken von Betroffenen besser nutzen lernt, etwa die oft schnelle Auffassungsgabe, Kreativität und Risikobereitschaft:
"Wenn Menschen ihr ganzen Leben unterhalb ihrer Kapazität leben, ist das auch für das Land schlecht."
So sei es bedauerlich, dass Menschen mit ADHS häufig nicht in den Polizeidienst aufgenommen werden, wenn sie in Behandlung seien, obwohl sie eigentlich für den Beruf gut geeignet wären. Außerdem sei die Geschichte voller Persönlichkeiten, die trotz Aufmerksamkeitsstörung Großes geleistet hätten, sagt sie mit Blick auf Walt Disney, Winston Churchill oder Albert Einstein, denen eine ADHS-Erkrankung nachgesagt wird.
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