Dort, wo sie über die dunkelsten Verbrechen berichtet, scheint das Licht in der neu eröffneten Dokumentation Obersalzberg am hellsten. Auschwitz, Kaunas, Treblinka, Hartheim - im zentralen Raum des in den Hang gegrabenen Gebäudes geht es um jene Tatorte, die am engsten mit dem Täterort des "Führersperrgebiets" hoch über Berchtesgaden verknüpft sind.

Das ist das Ziel der neuen Dauerausstellung mit dem Titel "Idyll und Verbrechen": Die Gräueltaten, die Hitler und seine Vertrauten zwischen Panoramablick und Plauderstündchen auf dem Obersalzberg planten, in ihrer monströsen Reichweite zu beschreiben und "hell auszuleuchten", wie Sven Keller, Leiter der Dokumentation, sagt.

Neue Dauerausstellung "Idyll und Verbrechen" auf dem Obersalzberg

Am Mittwoch ist die Dokumentation Obersalzberg mit einem Festakt neu eröffnet worden. 30,1 Millionen Euro hat der 800 Quadratmeter große Neubau nach aktuellem Stand gekostet, statt der ursprünglich geplanten 14,6 Millionen. Immer wieder musste die Eröffnung seit der Grundsteinlegung 2017 verschoben werden: Planer und Baufirmen wechselten, dann kam Corona, danach die Energie- samt Baukrise und diverse Lieferengpässe.

Zuletzt fehlte es im Frühjahr 2023 an Vitrinenglas und Spezialsilikon. Doch jetzt ist das von fünf auf zehn Personen verdoppelte Team bereit für die jährlich rund 170.000 Besucherinnen und Besucher, die sich zuletzt durch das alte, nur halb so große Ausstellungsgebäude quetschten.

Neueröffnung der Dokumentation Obersalzberg

In fünf Abteilungen tauchen die Gäste ein in die bizarre Diskrepanz von "Idyll und Verbrechen" am Obersalzberg, es geht um Propaganda und ihre Wirkung, Inszenierung von Macht, Mechanismen von Ausgrenzung, Weltpolitik in den Bergen, und um die Bunkeranlagen, die sich neuerdings als Rundgang erschließen lassen.

Die über 350 Exponate sind anschaulich und konkret, wie die Farbfilme von Hitlers Partnerin Eva Braun aus dem Sommer 1939. Sie zeigen Menschen in Anzügen und bunten Kleidern, die oben auf der Terrasse des Führer-Domizil "Berghof" bei gepflegtem Gespräch die Landschaft der Berchtesgadener Alpen genießen. Unten im Tal wurden indessen Einheimische, die nicht ins Rassenkonzept der Nazis passten, enteignet, vertrieben, eingesperrt, ermordet.

Im Bild sieht man eine Fotografie von Reichpropagandaleiter Joseph Goebbels bei einem Aufenthalt 1938 am Obersalzberg.
Nach sechs Jahren Bauzeit hat der Neubau der Dokumentation Obersalzberg wieder geöffnet. Herausragende Exponate und zahlreiche Einzelschicksale vermitteln mit neuester Technik, welche Bedeutung Hitlers "Berghof" für Europa hatte. Im Bild sieht man eine Fotografie von Reichpropagandaleiter Joseph Goebbels bei einem Aufenthalt 1938 am Obersalzberg.

Judenverfolgung in Berchtesgaden

So wie die aus einer jüdischen Familie stammende Dora Reiner, die zwanzig Jahre lang in Schönau am Königssee lebte: 1938 musste sie nach München fliehen, kam ins Lager Milbertshofen und 1941 mit dem ersten Deportationszug nach Kaunas, wo sie erschossen wurde. Ihr Haus kassierten die Nazis, der Rest ihres Hab und Guts wurde versteigert.

"Indem die Nachbarn auf diese Weise davon profitierten, wurde die Judenverfolgung zu einem gesellschaftlichen Prozess", sagt Sven Keller.

Der jüdische Kurarzt Gustav Ortenau, die Sinti-Familie Herzenberger, der Streichholzfabrikant Ernst Fürth - ihre Schicksale führen das Publikum vom konkreten Geschehen im Berchtesgadener Land über den Dreh- und Angelpunkt des "Führerhauptquartiers" im Berghof zu den Gräueltaten des NS-Regimes im ganzen "Deutschen Reich".

Ein Kniff macht diese Verbindungen auch räumlich deutlich: Immer wieder öffnen sich von einzelnen Exponaten Sichtachsen auf den zentralen Teil der "Tatorte". So blickt, wer Dora Reiners Geschichte liest, durch ein Mauerfenster direkt auf den Ausstellungstisch "Kaunas".

Im zentralen Raum des in den Hang gegrabenen Gebäudes geht es um jene Tatorte, die am engsten mit dem Täterort des "Führersperrgebiets" hoch über Berchtesgaden verknüpft sind
Auschwitz, Kaunas, Treblinka, Hartheim - im zentralen Raum des in den Hang gegrabenen Gebäudes geht es um jene Tatorte, die am engsten mit dem Täterort des "Führersperrgebiets" hoch über Berchtesgaden verknüpft sind.

Ausstellung auf dem neusten Stand der Zeit

Technisch und museumspädagogisch präsentiert sich die Schau, die das Institut für Zeitgeschichte konzipiert hat, auf dem neuesten Stand. Jedes Kapitel wird durch ein "Schlüssel-Exponat" markiert - vom Hitler-Sammelbildchen-Album bis zur riesigen Landkarte, mit deren Hilfe Hitler Krieg führte.

Der Boden ist mit einem Leitsystem für blinde Menschen ausgestattet, viele Vitrinen sind mit Braille-Schrift versehen. Ein Media-Guide präsentiert - als App oder als Leihgerät - Zusatzinformationen und Hörbeispiele in verschiedenen Sprachen.

Inklusion mitgedacht

Inklusion ist am heutigen Obersalzberg mitgedacht: Das gesamte Gebäude ist barrierefrei und den Audioguide gibt es auch in leichter Sprache, mit Zusatzinfos für blinde und demnächst auch als Video in Gebärdensprache für gehörlose Menschen. Besonders stolz sind Leiter Sven Keller und sein Team auf den digitalen Medientisch im ersten Teil: An ihm lassen sich durch Wischen, Ziehen, Klicken die Propagandafotos, die Hitler am Obersalzberg als volksnahen Privatmann zeigten, in ihre Einzelteile zerlegen.

Das widerlegt den Mythos vom "Schnappschuss": "Wir können an diesem Tisch beweisen, wie die Fotos inszeniert und wo sie retuschiert wurden", sagt Keller.

Mehr Platz bekommt das Bildungsangebot für Schulklassen, Studierende und Wissbegierige: Das alte Ausstellungshaus wurde dafür umgerüstet, künftig stehen vier Räume für Workshops zur Verfügung. Das ist ganz im Sinn von Doku-Leiter Keller: "Je mehr Öffentlichkeit der Ort bekommt, desto weniger Platz ist für irgendwelche Umtriebe."

Den historischen Ort der Berghof-Ruinen oder die NS-Geschichte des Obersalzbergs zu verstecken, sei schon in den 1950er-Jahren zum Scheitern verurteilt gewesen. "Die Menschen wissen, dass hier was war - also muss man ihnen zeigen, was genau es war", sagt Keller. Dafür sorgt die Dokumentation Obersalzberg mit ihren hellen Strahlern ab sofort.

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