80 Jahre nach der Befreiung der Konzentrationslager stellt sich die Frage, wie sich die Deutschen künftig an dieses düstere Kapitel ihrer Geschichte erinnern wollen. Die Überlebenden und Zeitzeugen sind großenteils ausgestorben, das "Nie wieder!" ist oftmals zum Ritual erstarrt. Gedenkstätten seien Aushandlungsorte über das zu Erinnernde, sagt Jörg Skriebeleit, der Leiter der KZ-Gedenkstätte Flossenbürg und Gründungsdirektor des Zentrums Erinnerungskultur an der Universität Regensburg, im Gespräch mit dem Evangelischen Pressedienst (epd).
"Es gibt kein nationales Gedächtnis, sondern miteinander konkurrierende Geschichtsbilder"
Menschen sind oft hin- und hergerissen zwischen Erinnern und Vergessen. Vergisst und erinnert sich eine Nation mehr oder minder genauso wie ein Individuum?
Jörg Skriebeleit: Ob und wie sich eine Nation erinnert, ist eine schwierige Frage. Es ist ein Ausdruck unserer demokratischen Geschichtskultur, dass es kein einheitliches Geschichtsbild gibt. Was wir erinnern oder in unser kulturelles, historisches Selbstverständnis integrieren, ist immer ein Ergebnis von Aushandlungsprozessen, die permanent stattfinden. In den 1950er und 1960er Jahren gab es lediglich eine rudimentäre Erinnerung an den Nationalsozialismus und seine Verbrechen. Es existierte ein deutsches Kriegsopfergedenken und Vertriebenen-Gedenken - mehr nicht. Das hat sich durch viele gesellschaftliche Auseinandersetzungen verändert. In den letzten fünf bis zehn Jahren ist das Thema Postkolonialismus stark aufgekommen. Es gibt also kein nationales Gedächtnis, sondern es gibt miteinander konkurrierende Geschichtsbilder, die ausgehandelt werden müssen.
KZ-Gedenkstätten bewahren Erinnerungen, sind aber zugleich Aushandlungsorte über das zu Erinnernde. Widerspricht sich das nicht?
An einer KZ-Gedenkstätte, einem ehemaligen Verbrechensort, kommt unheimlich viel zusammen. Sie ist ein Seismograf gesellschaftlicher Zustände. Es kommen junge Menschen hierher, deren Eltern nicht in Deutschland aufgewachsen sind, es sind Urenkel einer Täter- und Täterinnen-Generation hier. Aus unserer Sicht geht es in der Arbeit einer KZ-Gedenkstätte der Bundesrepublik Deutschland und im Freistaat Bayern nicht darum, ein nationales Geschichtsbild als Leitbildkultur mit zu etablieren und zu installieren, sondern an einem konkreten Ort von Massenverbrechen - der gleichzeitig bis heute immer noch ein Beweis dafür ist, dass es diese Verbrechen gegeben hat - darüber zu sprechen, wie wir als Menschen, als Gesellschaft, wie wir in sozialen Gruppen miteinander umgehen wollen. Das ist die große Chance.
"Wie konnten Menschen anderen so etwas antun?"
Menschen, die die KZ-Gedenkstätte besuchen, bringen sehr unterschiedliche Familienerinnerungen, kulturelle und nationale Gedächtnisse mit. Wie steht es mit jungen Menschen, wie erinnern diese sich?
Skriebeleit: Für junge Menschen ist ihre eigene Identität wichtig. In ihrem Alter ringen sie mit ihren individuellen Identitäten, wer sie sind. In einem jungen Leben passiert da sehr viel: Werde ich gesehen, kann ich mich ausleben? Da geht es um das Menschsein an sich. An einem solchen Ort merkt man manchmal schmerzhaft bis schockierend, dass Fremdzuschreibungen der Nationalsozialisten wie "asozial", "berufskriminell" oder "psychisch krank" diese jungen Menschen total anfasst, weil sie merken: Da wurden Menschen ihrer Suche nach Identität beraubt. Der Würdebegriff ist doch einer, der sehr oft verhandelt wird, aber oft abstrakt bleibt. An einem Ort wie Flossenbürg wird er konkret: Wie konnten Menschen anderen so etwas antun?
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