Welchen persönlichen Bezug haben Sie zu Sinti und Roma?
Rainer Burger:
Ich bin in Rumänien geboren und als Teil der deutschen Minderheit aufgewachsen. Dort sind Roma ein viel präsenterer Teil der Gesellschaft als in Deutschland – etwa zehn Prozent der Bevölkerung. Ich bin mit gängigen Vorurteilen aufgewachsen, wie "Spiel nicht mit dem Z-Kind", aber als Kinder haben wir uns darum wenig gekümmert und mit allen zusammen gespielt.
Während meiner Schul- und Studienzeit in Deutschland fiel mir auf, dass das Thema Roma hier kaum präsent ist. Ich musste meine eigenen Fragen selbst beantworten und entschied mich, meine Diplomarbeit über Roma in Rumänien zu schreiben. Seitdem beschäftige ich mich intensiv mit dem Thema. Durch meine Arbeit bei der Diakonie Hasenbergl in München habe ich viele Jahre in der Sozialberatung und beruflichen Orientierung gearbeitet und bin dabei eng mit Sinti und Roma in Kontakt gekommen.
Was haben Sie dabei selbst gelernt?
Individuelle Hilfe allein reicht nicht immer aus. Wenn ein Jugendlicher seinen Schulabschluss macht, aber dann bei Bewerbungen hört:
"Ich stelle doch keine Z ein" oder "Ich lasse doch keine Z ans Geld"
dann sind ihm die Möglichkeiten dennoch versperrt. Genau das ist passiert – ein Jugendlicher wurde bei einer Bank abgelehnt, weil er Roma ist. Deshalb ist es wichtig, nicht nur auf individueller Ebene zu arbeiten sondern auch gesellschaftliche Strukturen anzugehen: Aufklärung, Öffentlichkeitsarbeit und der Kampf gegen Antiziganismus sind essenziell.
Ich habe gelernt, wie sehr die Verfolgung und Diskriminierung der Vergangenheit bis heute nachwirken. Jugendliche sprechen mit mir über die Verfolgung im Dritten Reich, weil diese Themen in ihren Familien noch immer allgegenwärtig sind. Antiziganismus ist nicht Geschichte, sondern bis heute real.
Sie haben gerade Jugendliche erwähnt. Was für spezielle Angebote gibt es dann vor Ort für die jungen Menschen?
Es geht darum, geschützte Räume zu schaffen, in denen sie ernst genommen werden. Ein "Safe Space", in dem sie ohne Vorurteile respektiert werden und nicht ausgegrenzt und diskriminiert. Auch im sozialen Bereich gibt es Diskriminierung, deshalb sind solche Räume wichtig.
Wie schätzen Sie die Situation von Sinti und Roma heute insgesamt ein?
Sinti und Roma sind die am meisten diskriminierte Minderheit Europas. Das hat auch mit der Haltung vieler Menschen zu tun. Sie bringen keinen "Sinti-und-Roma-Hokuspokus" mit, sondern im Bereich der sozialen Arbeiten haben wir es manchmal eben mit sozialen Herausforderungen zu tun. Diese sind auch durch jahrhundertelange Ausgrenzung entstanden. Es braucht Vertrauen und Anerkennung ihrer Realitäten.
Sie haben gerade Vorurteile erwähnt. Wie geht man denn mit klassischen Vorurteilen um?
Vorurteile sind tief verankert, manchmal sogar internalisiert. Wenn man Jugendlichen aus bestimmten Stadtteilen immer wieder sagt: "Ihr seid Gangster", dann prägt das ihr Selbstbild. Es ist wichtig, Vorurteile zu erkennen und dagegen anzugehen.
Gegen diese Vorurteile muss man ankämpfen.
Ein Beispiel: Eine Jugendliche verlor ihren Job im Verkauf, als herauskam, dass sie Sintizza ist. Sie wollte keinen öffentlichen Aufschrei, sondern einfach nur in Ruhe leben. Ein anderer Fall: Der Vater eines Grundschülers wurde vom Schulleiter mit dem Z-Wort beschimpft. Ich wollte protestieren, aber der Vater entschied sich dagegen, um seinem Sohn das Leben nicht noch schwerer zu machen. Diese Zurückhaltung zeigt, wie tief die Angst vor Diskriminierung sitzt.
Dossier Sinti & Roma
Sinti und Roma sind in Deutschland eine nationale Minderheit. Der Begriff "Roma" wurde auf dem ersten Weltkongress der Roma-Nationalbewegung gewählt. Sinti werden als Untergruppe der Roma gesehen und meinen Nachfahren von Gruppen, die seit dem 15. Jahrhundert eingewandert sind. Unsere Themenseite Sinti und Roma informiert über aktuelle Bewegungen, Projekte und Aktionen.
Wenn Sie eine Ausstellung über Sinti und Roma ausleihen möchten: Hier geht es zum Portal ausstellung-leihen.
Wie könnte sich die Gesellschaft denn Ihrer Meinung nach mehr für die Rechte und Anerkennung der Sinti und Roma einsetzen?
Es beginnt mit der Auseinandersetzung mit der Geschichte. Viele wissen nicht, dass neben sechs Millionen ermordeten Juden auch bis zu einer halben Million Sinti und Roma und noch weitere Gruppen Opfer des Holocaust wurden. Wissen und Aufklärung sind entscheidend.
In meinen Seminaren höre ich dann öfters mal:
"Da ist ja nichts dabei, wenn ich das Z-Wort benutze. Ich mein es doch nicht böse."
Aber das ist eine diskriminierende Fremdbezeichnung mit einer belastenden Geschichte. Genauso wie man heute das N-Wort nicht mehr benutzt, sollte auch hier Sensibilität herrschen.
Fehlt einfach die Aufmerksamkeit für das Thema?
Definitiv. Immer wieder höre ich: "Ist es wirklich so schlimm?" Ja, es ist sogar schlimmer, als viele sich vorstellen können. Besonders deutlich wurde das im Zusammenhang mit dem Krieg in der Ukraine, als geflüchtete Roma massiver Diskriminierung ausgesetzt waren. Hier bei uns in Deutschland, massiv auch hier in Bayern. Das hat uns 40, 50 Jahre zurückgeworfen. Und offener Antiziganismus war wieder sichtbar und alltäglich.
Vor kurzem waren die Bundestagswahlen. Glauben Sie mit Blick auf die Wahlergebnisse, dass sich da was verändern könnte? Welche Erwartungen haben Sie denn an die neue Regierung?
Es gibt Befürchtungen, dass das Amt des Beauftragten gegen Antiziganismus und für das Leben der Sinti und Roma, welches im Moment von Dr. Mehmet Daimagüler ausgefüllt wird, abgeschafft wird oder an Bedeutung verliert. In der Community der Sinti und Roma herrscht Sorge über den politischen Rechtsruck. Ich erinnere mich an ein Gespräch mit dem Holocaust-Überlebenden Hugo Höllenreiner, der mir sagte, dass ihn das Erstarken rechter Parteien wieder schlecht schlafen lässt. Das zeigt, wie tief die Angst sitzt.
Der Bundeshaushalt sowie der Landeshaushalt unterstützen aktuell den Landesverband Deutscher Sinti und Roma. Erst 2023 wurde der Zuschuss durch Bayern um rund 230.000 Euro erhöht – befürchten Sie eine Kürzung oder gar Streichung der Gelder im Hinblick auf die Wahlergebnisse?
Ich glaube nicht, dass Gedenkprojekte betroffen sein werden, da hier parteiübergreifend Konsens besteht. Aber bei aktuellen Herausforderungen, etwa bei der Unterstützung geflüchteter Roma oder in Schulen, Ämtern usw….., da wird oft weggeschaut.
Was würden Sie sich denn für die Zukunft wünschen?
Neue Bilder in den Köpfen, mehr Wissen über Geschichte und gelebte Realitäten. Es muss darum gehen, gesellschaftliche Strukturen so zu verändern, dass Menschen nicht mehr von vornherein benachteiligt sind.
Ein Sinto sagte mir einmal: "Man müsste Sinti und Roma 20 Jahre lang bevorzugen, um ein Angleichen zu ermöglichen." Das klingt radikal, zeigt aber, wie tief die Ungleichheit sitzt. Solange Name, Herkunft oder Adresse über Lebenschancen entscheiden, gibt es keine Chancengleichheit. Das müssen wir ändern.
Herr Burger, vielen Dank für das Gespräch.
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