Vor zwei Jahren - am 22. März 2020 - ist der erste Corona-Lockdown in Kraft getreten. Kinder und Jugendlichen durften von jetzt auf gleich nicht mehr in Kitas und Schulen, Freizeit- und Sportangebote wurden gestrichen, vor Treffen mit anderen außerhalb der Kernfamilie wurde gewarnt. Schon früh machten Psychologen auf die seelischen Folgen auch für junge Menschen aufmerksam. Uwe-Jens Gerhard, Chefarzt der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie am Bezirkskrankenhaus Bayreuth, erläutert dem Sonntagsblatt, warum und wie stark einige Jugendliche seit der Corona-Pandemie unter Depressionen und Ängste leiden.
Homeschooling, keine Freizeitangebote mehr, keine Freunde treffen: Die Corona-Lockdowns waren vor allem für junge Menschen eine Herausforderung. Inwieweit hat all das zu psychischen Erkrankungen bei Kindern und Jugendlichen geführt?
Gerhard: Je länger die Pandemie dauert, desto deutlicher wird, dass Kinder und Jugendliche unter der Situation auch psychisch leiden. Das merkt man auch an den Zahlen: 2019 kam es bei uns zu 360 Akutaufnahmen, 2020 zu 401, 2021 zu 450.
Sie haben dann wohl auch entsprechende Wartelisten...
Gerhard: Wartelisten gibt es in der Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie schon seit Jahren. Die Wartelisten haben sich seit Beginn der Pandemie etwa verdoppelt. Vor Corona standen etwa 50 Patienten auf der Warteliste, aktuell sind es 89. Das lässt sich sicher nicht nur Corona zuschreiben, aber die Pandemie ist doch ein großer Faktor.
"Bei kleineren Kindern haben Ängste um die Familie, zum Beispiel Trennungsängste, zugenommen."
Um welche Erkrankungen geht es dabei vor allem?
Gerhard: Es treten inzwischen deutlich mehr emotionale Störungen wie Depressionen oder Anpassungsstörungen auf. Auch selbstverletzendes Verhalten hat zugenommen. Vermehrt treten Krankheitsbilder auf, die mit dem Bedürfnis nach Kontrolle zusammenhängen. Es entstanden neue Ängste, beispielsweise um schulische Abschlüsse, den Verlust von Freundschaften. Das kann von Jugendlichen als Kontrollverlust wahrgenommen werden, auf den manche mit Zwangs- und Angststörungen, Depressionen oder Essstörungen reagieren.
Psychosomatische Störungen, wie zum Beispiel Einschlafstörungen und Kopfschmerzen, sind öfter zu verzeichnen. Auch Suchtverhalten, beispielsweise Spielsucht oder PC-Sucht tritt inzwischen häufiger auf. Bei kleineren Kindern haben Ängste um die Familie, zum Beispiel Trennungsängste, zugenommen.
"Wenn Kinder nicht auf Kinder treffen, gehen auch soziale Kompetenzen verloren."
Was genau hat den jungen Leuten in Corona-Zeiten so zugesetzt?
Gerhard: In den vergangenen zwei Jahren waren Kinder sehr in ihrer Entwicklung eingeschränkt. Kinder suchen nach ihrer Identität, die entwickelt sich normalerweise durch den Kontakt mit Gleichaltrigen. Wenn Kinder nicht auf Kinder treffen, gehen auch soziale Kompetenzen verloren. In den ersten Lebensjahrzehnten entwickelt sich das Gehirn besonders rasant. Viel passiert dabei in der Gemeinschaft mit Familie, Freundinnen und Freunden. Das alles fehlte über lange Zeit. In der Pandemie haben die Kinder vor allem gelernt, dass sie häufig hilflos ausgeliefert sind. Sie werden von ständigen Ängsten begleitet. So eine "gelernte Hilflosigkeit" ist das bekannteste psychologische Modell für Depression.
Kinder und Jugendliche mit psychischen Erkrankungen müssen deutlich länger auf eine Behandlung warten als noch vor Corona. Was bedeutet das für Menschen, die ganz dringend Hilfe benötigen?
Gerhard: Die Wartezeiten sind sehr unterschiedlich. Krisenzugänge werden selbstverständlich sofort aufgenommen. Die Wartezeiten auf den Psychotherapiestationen liegen bei mehreren Monaten, die Aufnahme erfolgt allerdings auch nach Schweregrad der Erkrankung. Klar ist auch: Bei längeren Wartezeiten besteht die Gefahr, dass die Erkrankung chronisch wird und der Schweregrad zunimmt, vor allem weil andere psychische Störungen auftreten können.