Welche Auswirkungen hat die Corona-Pandemie auf soziale Einrichtungen? Kaum eine Person kennt sich besser darin aus als Wilfried Knorr: Er ist Geschäftsführer des Diakoniedorfs Herzogsägmühle. In seinem Gastbeitrag erklärt er, wo es gerade klemmt - und wie die Politik reagieren sollte.

Was Politik tun muss: Auswirkungen abfedern, Komplexität beachten, aus der Krise lernen!

Unstreitig hat die Wucht, mit der die Pandemie das öffentliche Leben und die Wirtschaft getroffen hat, die besondere Bedeutung des sozialen Sektors für die Funktionsfähigkeit einer Gesellschaft neu herausgearbeitet. Pflegerinnen und Pfleger sind nun nicht mehr nur gesuchte Fachkräfte für eine älter werdende Gesellschaft, sondern (noch viel mehr als Bundesliga-Kicker oder China-Restaurant-Betreiber oder Theaterschaffende) systemrelevant.

Und rasch ist Politik auch bereit, das öffentlich (und öffentlichkeitswirksam) anzuerkennen. Dabei beobachte ich gut gemeinte Aktionen á la "wir bezahlen den Pflegekräften zwei Monate lang eine Mahlzeit am Tag" und "wir zahlen den "Pflegebonus" von 500 Euro je Pflegefachkraft" – Aktionen, die aber (der Teufel steckt im Detail!) in der Umsetzung möglicherweise genauso viel Ärger mit sich bringen werden, wie sie als Zeichen der Wertschätzung wahrgenommen werden.

Denn unklar ist, wer genau das bezahlt – und die Abgrenzungen werden schwierig: Ist die Fachkraft, die im Wohnheim für Menschen mit Behinderung durchgehend Betreuungsdienst organisieren muss, weil Werkstätten und Förderstätten geschlossen sind, weniger belastet, als die Altenpflegefachkraft? Im gerontopsychiatrischen Wohnheim wird ebenfalls gepflegt, aber eben nicht nur – und so ist es nicht eine Einrichtung gemäß SGB XI.

Corona - und viele Menschen fallen durch das Raster

In der Jugendhilfe sind die jungen Menschen nicht in der Schule, nicht in der Berufsausbildung – die Mitarbeitenden müssen zudem häusliche Quarantäne durchsetzen, dem Lagerkoller vorbeugen, Konflikte managen, Online-Unterricht begleiten – aber bekommen nicht die 500 Euro. Wir hoffen noch auf großzügige Umsetzung!

Ich beobachte allerdings nicht nur diese Kurzzeit-Maßnahmen, sondern auch den spontanen Versuch des Sozialstaates, sich strukturell als verlässlicher Partner in der Krise zu erweisen und Einrichtungen und Dienste im sozialen Sektor durch Vereinbarungen zur Weiterzahlung ausfallender Einnahmen abzusichern und existenzgefährdende Liquiditätsengpässe zu vermeiden. Das kann und muss man dem Sozialstaat zunächst hoch anrechnen – wenn diese Grundeinstellung Bestand hat auch über einen längeren Zeitraum, in allen Sektoren und auch angesichts der Folgekosten, die noch auf uns zukommen werden.

Werkstätten für Behinderte haben Produktionsausfälle

Da geht es um Ausfälle in der medizinischen Frühförderung, bei ambulanten Jugendhilfeleistungen – aber zum Beispiel auch um Produktionsausfälle in Werkstätten für Menschen mit Behinderung, die allein für unsere Werkstätten voraussichtlich größer als 500.000 Euro ausfallen werden – und damit im Folgejahr auch die Werkstattlöhne der Beschäftigten Menschen mit Behinderung nachhaltig drücken werden. Und in welcher Weise der allgegenwärtige Ruf nach besserer Bezahlung im sozialen Sektor am Ende des Tages Eingang in Entgeltverhandlungen finden wird, muss sich ebenfalls noch erweisen.

Die Komplexität sozialer Arbeit, sowohl von den Rahmenbedingungen her, als auch von der Praxis der Refinanzierung, ist hoch, und negative Auswirkungen der Maßnahmen gegen Corona wird man weit verästelt finden. Schließlich: Neben "Auswirkungen mildern" und "Komplexität beachten" benenne ich "Aus der Krise lernen" als dritte und vielleicht wichtigste Forderung. Wir müssen unser Wirtschaften auf das Gemeinwohl künftig stärker ausrichten.

Nachhaltigkeit bekommt man auch nicht zum Nulltarif. Globalen, teils undurchschaubaren Zusammenhängen sollten wir durch Stärkung der Regional- und Kreislaufwirtschaft die Wirkmacht nehmen. Dieses Thema wäre einen weiterführenden Artikel wert!

 

In einer Videobotschaft auf Youtube wendet sich Wilfried Knorr an die Öffentlichkeit:

Wilfried Knorr, Geschäftsführer Herzogsägmühle, wendet sich in einer Videobotschaft an die Öffentlichkeit und spricht über die Folgen der Corona-Pandemie.

Diakoniedorf Herzogsägmühle - Hintergrund

Den Grundstein für Herzogsägmühle legte die Obdachlosenarbeit: 1894 gründete der evangelische Pfarrer Adolph von Kahl Herzogsägmühle als zweite Arbeiterkolonie für heimat- und wohnungslose Männer in Bayern. 1935 wurde die Einrichtung im Rahmen der nationalsozialistischen Zwangsfürsorge zentralisiert, ihre Insassen mussten Zwangsarbeit leisten. Seit 1946 ist Herzogsägmühle Teil der Inneren Mission München.

Unter dem Leitwort "Ort zum Leben" bietet das Diakoniedorf Beratung, Therapie, Arbeit und Wohnraum für Menschen mit Suchtproblemen, mit seelischen Erkrankungen und mit Behinderung, für Wohnungslose sowie für Kinder und Jugendliche mit besonderem Förderbedarf. Herzogsägmühle beschäftigt rund 1400 Mitarbeitende und verzeichnete 2019 ein Wirtschaftsvolumen von rund 98 Millionen Euro.