"Ich kann doch keinem in die Augen schauen" – Sätze wie diesen hört die Ärztin Elisa Mahler fast täglich. Sie behandelt an der Uniklinik Bonn Menschen, die schielen. Doch die Augenheilkunde beschränkt sich meist auf das beeinträchtigte Sehvermögen, auf Doppelbilder und deren medizinische Folgen wie etwa Kopfschmerzen. Die Auswirkungen auf die Psyche stehen selten im Fokus.

Der 18-jährige Jannick wagt nur in der Anonymität des Netzes, sich zu äußern: "Ich bekomme von fast jedem gesagt, ich schiele. Das tut mir irgendwie sehr weh", schrieb er auf der Plattform "gutefrage". Und so ziehe er sich zurück: "Ich habe keinen Bock, Leute zu treffen."

Schielen und die psychosozialen Folgen

Die "psychosozialen Folgen" des Schielens werden nach Ansicht von Mahler viel zu wenig beachtet: "Es fängt beim Mobbing in der Schule an und geht bis zur Partner- und Berufswahl." Die Menschen fühlten sich stigmatisiert und ausgegrenzt. Dies könne zu Depressionen oder Angststörungen führen. Es betrifft keine kleine Minderheit: In Deutschland schielen rund vier Prozent aller Erwachsenen.

Für Mahler war dies Motivation, zusammen mit der Professorin Bettina Wabbels eine Studie zu der Frage anzustoßen, wie sich Schiel-Operationen bei Erwachsenen auswirken. Verbessern sie maßgeblich die Lebensqualität, mindern sie alte Ängste und depressive Stimmungen?

Qualitas-Studie

Die sogenannte Qualitas-Studie ist nach Angaben der Initiatorinnen die weltweit größte Studie dieser Art. Unter der Leitung der Universitätsklinik Bonn beteiligen sich derzeit 25 Kliniken, mehr als 1.000 Personen nehmen teil. Sie erstreckt sich über sechs Jahre, die Patientinnen und Patienten werden detailliert befragt – vor der Operation, drei Monate nach der Operation und zu einem späteren Zeitpunkt. Neben der Sehleistung ermittelten die Fragebögen auch psychosoziale Herausforderungen sowie Ängste und depressive Symptome.

So will man schwarz auf weiß die Leiden der Betroffenen belegen und die Erfolge, die sich nach einer Operation einstellen können. Für die Kliniken seien die anspruchsvollen Operationen derzeit allerdings "sehr unattraktiv, denn sie werden schlecht vergütet", bemängelt Mahler.

Operationen gegen das Schielen

Der Eingriff setze an den äußeren Augenmuskeln an, erklärt sie. Denn diese ziehen den Augapfel in die verschiedenen Blickrichtungen. Bei einem Ungleichgewicht, zum Beispiel, wenn ein Muskel gelähmt ist, blickt das Auge dann nicht in die gleiche Richtung wie das gesunde Auge.

Der Berufsverband der Augenärzte gibt an, dass in Deutschland rund die Hälfte der "Schielkinder" operiert werden müssten. Konventionelle Therapien bestehen aus speziellen Brillen oder dem Abkleben des besser sehenden Auges, damit das "schwache" Auge trainiert wird. Auch in "Sehschulen" können junge Patientinnen und Patienten Fähigkeiten wie das räumliche Sehen erlernen.

Behandlungen im Kindesalter

Die oft langwierige Behandlung sollte schon bei Kleinkindern einsetzen. Nach Schulbeginn lasse sich oftmals keine Heilung mehr erreichen, betonen die Augenärzte. "Wird diese Sehschwäche nicht rechtzeitig entdeckt und behandelt, bleibt sie lebenslang bestehen. Das Kind kann dann nie mehr lernen, richtig beidäugig oder gar dreidimensional zu sehen", heißt es in einer Broschüre des Berufsverbandes zum Thema.

Die nun 50-jährige Sarah wurde mit zehn Jahren operiert. Doch sie schielte immer noch etwas, mit 18 Jahren lag sie erneut auf dem OP-Tisch. "Dann endlich fühlte ich mich besser. Zuvor war ich so unsicher. Ich wünschte, meine Eltern hätten sich viel früher darum gekümmert", sagt sie. Mit großem Unbehagen denke sie an ihre Zeit als Jugendliche zurück.

Psychische Erkrankungen als Folge

Bereits bei Kindern kann Schielen psychische Erkrankungen begünstigen. Weil sie schlecht sehen, haben sie Probleme in der Schule und beim Sport, hinzu kommt oft der Spott anderer. Eine US-amerikanische Studie aus dem Jahr 2022 analysierte die Krankendaten von 350.000 Kindern, die schielten.

Es zeigte sich, dass sie im Vergleich zu Gleichaltrigen mit höherer Wahrscheinlichkeit an Angststörungen, Schizophrenie, bipolaren Störungen und depressiven Störungen erkranken. Angstzustände beispielsweise traten unter schielenden Kindern doppelt so häufig auf wie unter nicht schielenden Kindern aus vergleichbarem sozialen Hintergrund.

Hilfestellungen für Schielende

In Deutschland fühlen sich viele Betroffene alleingelassen. Der junge Erwachsene Jannick beklagt: "Ich weiß wirklich nicht, wo ich Hilfe bekommen kann. Niemand nimmt mich so richtig ernst." Auch Augenärztin Mahler kennt keine Adresse oder Selbsthilfegruppe, die speziell Schielenden bei ihren seelischen Nöten weiterhilft, aber sie könnten sich natürlich an allgemeine Psychotherapeuten wenden.

Durch die Bonner Studie will man besser vorhersagen können, wer am meisten von einer Operation profitiert oder wer eine begleitende Psychotherapie benötigt. Mahler sagt, Ziel seien "gezielte, ganzheitliche Therapieansätze". Und obwohl Kinder nicht Teil der Studie seien, hofft Mahler, dass die Ergebnisse langfristig auch in die Kinderheilkunde einfließen: Durch eine frühzeitige und umfassende Behandlung des Schielens solle ihnen Leid erspart werden.

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