Die Bestürzung ist vielerorts groß: Eine Umfrage von YouGov im Auftrag der "Welt am Sonntag" zum deutsch-jüdischen Verhältnis zeigt angeblich, dass die Deutschen ein gespaltenes Verhältnis zu Jüdinnen und Juden haben. Aber stimmt das wirklich?

Alarmierend wenig Verantwortungsbereitschaft für Nazi-Verbrechen

Ein Ergebnis der Umfrage ist tatsächlich alarmierend: Nur 43 Prozent der Befragten stimmen der Aussage "Vor dem Hintergrund der Geschichte des Nationalsozialismus hat Deutschland bis heute eine besondere Verantwortung für das jüdische Volk" zu. Das ist weniger als die Hälfte. Noch etwas weniger, aber fast genauso viele Deutsche, nämlich 42 Prozent, lehnen die Aussage ab. 

Allerdings lohnt sich ein genauer Blick, welche Milieus hier gerne einen Schlussstrich unter die NS-Verbrechen ziehen würden: Nur 26 Prozent der AfD-Wähler*innen sehen hier noch eine besondere deutsche Verantwortung. Dagegen sind die Anhänger*innen der Linken und der Grünen zu fast zwei Dritteln von dieser Verantwortung überzeugt: 65 bzw. 61 Prozent von ihnen stimmen der Aussage zu. 

Politik Israels als "ungerecht" bezeichnet

Das ist besonders interessant mit Blick auf ein weiteres Ergebnis der Umfrage: Eine deutliche Mehrheit der Deutschen findet die Politik des Staates Israels gegenüber den Palästinenser*innen als ungerecht. 54 Prozent stimmen dieser Aussage zu, nur 13 Prozent lehnen sie ab. 

Im Artikel der "Welt" steht das erstmal nebeneinander. Das könnte den Eindruck erwecken, die beiden Haltungen stünden im Zusammenhang – und ließen sich als mangelnde Solidarität mit Jüdinnen und Juden, womöglich gar als Antisemitismus deuten.

Mal abgesehen davon, dass da irgendwie auch eine Gleichsetzung von "jüdisch" mit "israelisch" mitschwingt – schaut man sich an, wer die Politik Israels als "ungerecht" bezeichnet, so sind es gerade die, die in die besondere Verantwortung der Deutschen für das jüdische Volk betonen, namentlich die Wähler*innen der Linken und der Grünen. 

Es gilt also, zu differenzieren. In dem "Welt"-Artikel geschieht das leider nicht. Der Autor interpretiert die kritische Einstellung zur israelischen Politik sogar folgendermaßen: Die Deutschen positionierten sich im Nahost-Konflikt "deutlich auf der Seite der Palästinenser".

Das ist mindestens eine starke Verkürzung, wahrscheinlich aber eher eine grobe Vereinfachung nach dem Motto "Wer nicht für uns ist, ist gegen uns" und möglicherweise auch einfach inhaltlich falsch. Denn es setzt binäres Denken voraus, als ob es hier nur Schwarz oder Weiß, nur Freund oder Feind gäbe. 

Keineswegs alles gut

Alles gut also? Keineswegs. Das schwindende Bewusstsein für die deutschen Verbrechen an Jüdinnen und Juden ist besorgniserregend. Sie steht aber offenbar gerade nicht in einem kausalen Zusammenhang mit der kritischen Sicht vieler Deutscher auf die Politik des Staates Israels – so viel Genauigkeit beim Lesen sozialwissenschaftlicher Untersuchungen sollte schon sein. 

Am deutsch-jüdischen Verhältnis gibt es sicher vieles zu verbessern. Das wird aber nur dann gelingen, wenn man Meinungen, Urteile und Vorurteile tatsächlich in ihrem Kontext sieht, und nicht nach Belieben vereinfacht. Und wenn man wissenschaftliche Erkenntnisse präzise und sorgfältig interpretiert.

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