Die im Allgäu lebende Tiefenpsychologin Sarah Pali-Ploss beschäftigt sich seit vielen Jahren immer wieder mit dem Thema "Pilgern und Sinn". Bereits 2010 hat sie ihre Diplom-Arbeit samt Studie zu dem Thema abgeschlossen. Übrigens: Pilgern kann man fast zu jeder Jahreszeit - und wer es nicht zu heiß mag, für den sind Spätherbst oder Frühjahr gute Optionen.

Frau Pali-Ploss, wann waren Sie das letzte Mal selbst Pilgern?

Pali-Ploss: Das ist schon etwas länger her, und es war auch leider das einzige Mal. Gewandert auf dem Jakobsweg - das Wegenetz zieht sich ja quer durch Europa - bin ich später auch. Ich bin im Jahr 2007 einen Teil des spanischen Camino gepilgert, ich war damals 22 Jahre alt und habe Psychologie studiert.

Ich fand es spannend, zu sehen, was das Pilgern mit mir und anderen macht. Ich habe mir dann gedacht: Das wäre doch eine spannende Forschungsfrage für meine Diplomarbeit! Allerdings waren solche Themen, die irgendwas mit Spiritualität oder auch Theologie zu tun haben, in der Psychologie nicht gerne gesehen - Psychologie ist schließlich eine Naturwissenschaft...

Was genau haben Sie denn in dieser Studie dann untersucht?

Ich habe mit einem Fragebogen meiner Diplom-Betreuerin Tatjana Schnell von der Uni Innsbruck eine sogenannte Längsschnittstudie gemacht. Das heißt: Ich habe die Pilgerinnen und Pilger vor, zwei Wochen sowie vier Monate nach dem Pilgern den Fragebogen ausfüllen lassen. Inhaltlich ging es um den "Sinn und Lebensbedeutungen im Leben": Wie entwickelt sich die Wahrnehmung auf Sinnhaftes im Leben.

Die meisten Menschen gehen nicht in der Blütezeit ihres Lebens auf den Pilgerweg, sondern ziemlich oft geben Lebens- oder auch Sinnkrisen den Ausschlag dazu, sich auf Pilgerschaft zu begeben.

Beim Pilgern hat man viel Zeit für sich - manchmal auch zu viel Zeit, ist das für jeden geeignet?

Den Wunsch oder gar "Drang" zu pilgern, den haben Menschen häufig an Bruchstellen des Lebens. Das war auch ein Ergebnis meiner Studie, dass Menschen sich eben als Reaktion auf eine solche Krise fürs Pilgern entscheiden. Krise bedeutet auch immer Chance.

Ich würde sagen, auch aus der Sicht als Psychotherapeutin: Pilgern hat auch viele therapeutische Elemente, wie etwa Rituale, das Gehen an sich, Gemeinschaft, Landschaft, Reizreduktion und so weiter. Es ist eine gute Möglichkeit, nachzudenken, zu reflektieren, außer vielleicht, wenn man eine akute Psychose hat.

Beim Grübeln kommen verdrängte Themen an die Oberfläche - was, wenn man das nicht will?

Warum sollte man nicht grübeln? Ins Grübeln kommen kann man auch zuhause. Das liegt grundsätzlich an einem selbst, wie viel Zeit zur Selbstreflexion man sich nimmt. Und potenzielle Pilgerinnen und Pilger sind Menschen - das zeigt auch meine Studie -, die sich gerne mit sich auseinandersetzen wollen.

Aber: Natürlich gibt es auch auf dem Jakobsweg genug Ablenkungsmöglichkeiten, man kann etwa in der Gruppe gehen, man kann sich mit Musik ablenken, mit Hörbüchern oder mit Gesprächen. Es gibt jede Menge Möglichkeiten im Sinne einer "gesunden Abwehr" vor zu vielen negativen Gedanken. Die Frage ist natürlich: Was sind negative Gedanken? Es sind Gedanken, die wir so bewerten, die aber einen Nutzen und auch Sinn haben.

... das heißt aber auch: Man sollte sich vor dem Pilgern auf diese Möglichkeit gefasst machen?

Wenn jemand ernsthafte psychische Beschwerden hat und deshalb schon mal in Behandlung war, kann sie oder er sicher ganz gut einschätzen, was sie oder er braucht, um stabil zu bleiben - und was nicht. Ich jedenfalls habe damals auf dem Jakobsweg niemanden gesehen, bei dem ich mir gedacht hätte: Oje, in deiner Verfassung solltest du besser nicht hier sein.

Wenn jemand weiß, er sollte nicht so viel Zeit allein verbringen, damit es ihm gut geht, schließt er sich eben einer Gruppe an oder versucht zuerst nur kürzere Distanzen und geht zeitlich nicht so lange, das kann man ja alles planen.

Wer sich fürs Pilgern entscheidet, der durchbricht den Alltag, der durchbricht seine Struktur...

Genau, deshalb sollte niemand - ob nun psychisch gefestigt oder nicht - völlig unvorbereitet Pilgern gehen, gerade, wenn es mehrere Wochen dauert. Struktur bedeutet immer Sicherheit und Kontrolle. Das zu durchbrechen, etwas ganz Neues zu wagen, das ist zum einen natürlich spannend und aufregend, es kann aber auch Ängste oder Sorgen bereiten. Im Idealfall tut mir die Reizreduktion beim Pilgern gut, man ist mehr bei sich, die Landschaft wirkt auf einen. Auch diesbezüglich sollte man sich den zu einem selbst "passenden" Pilgerweg aussuchen.

Viele Menschen starten ihre Pilger-Karriere an "Lebensübergängen". Wieso ist das so?

Krisenhafte Situationen wie der Verlust des Arbeitsplatzes, der Auszug der Kinder oder auch eine Trennung markieren im Leben oft eine Neuausrichtung. Und um sich über die Zukunft Gedanken zu machen, nehmen sich Menschen Auszeiten. Weshalb sie sich fürs Pilgern entscheiden, habe ich mir für meine Studie damals auch mit angeguckt - schließlich könnte man auch einfach eine längere Wanderung machen. Fakt ist: Man muss nicht gläubig oder spirituell sein, um zu pilgern. Am Ende sind es oft pragmatische Gründe, etwa die Infrastruktur entlang der Pilgerrouten.

Ist Pilgern jetzt gut für die Psyche, also die Seele, oder kann man das so pauschal nicht sagen?

Das Ergebnis meiner quantitativen Studie hat klar gesagt: Ja, die Sinnkrise, die es vor dem Pilgern gab, ist stark abgeflacht - und zwar nicht nur kurzzeitig, sondern auch noch Monate nach dem Pilgern. Die Probanden nahmen sich sinnerfüllter wahr. Außerdem haben bestimmte Sinnquellen, wie etwa Naturverbundenheit, Selbstverwirklichung oder Gemeinschaft an Bedeutung gewonnen. Der Prozess beeinflusst nachhaltig.

Zusammenfassend könnte man sagen, dass sich nach dem Pilgern das Bild eines sich selbst und anderen umsorgenden Menschen abzeichnet, dem die Natur und der spirituelle Bezug zu der eigenen Wirklichkeit wichtig geworden sind.

Man findet mehr zu sich selbst. Und nur wenn ich "bei mir" bin, dann kann ich auch gut in Verbindung mit anderen sein.

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