In Venedig gehören Gummistiefel zur Grundausstattung, Überschwemmungen sind Alltag in der Lagunenstadt. Wer kein passendes Schuhwerk dabei hat, kann von Straßenverkäufern wenig ansehnliche Überzieher erwerben. Kaum beginnt es zu regnen, findet man sie an jeder Ecke. Der Preis für den Stiefel-Ersatz steigt mit jedem Millimeter, den das Wasser sich aus den Kanälen auf die Plätze der Stadt vorarbeitet. Provisorische Stege tauchen wie von Zauberhand auf und erhöhen die Fußgängerwege. Auch Tage später erinnern sie wieder zusammengeklappt an das vorherige Acqua Alta - das Hochwasser, das wie die Rialtobrücke als Touristenattraktion gilt.
Doch der Klimawandel macht aus dem romantischen Plantschen in den Rest-Pfützen auf dem Markusplatz immer häufiger eine echte Gefahr für die Lagunenstadt und ihre Bewohner. In den vergangenen 20 Jahren ist das Wasser alle zwei bis drei Jahre mehr als 140 Zentimeter über Normalnull gestiegen. Zwischen 1900 und 1950 wurden nur zwei extreme Hochwasser pro Jahrzehnt gezählt. Eine Lösung musste her. Die hat zwar lange auf sich warten lassen, scheint aber nun tatsächlich zu funktionieren. Die Frage ist allerdings: wie lange?
Seit kurzem schützt "Mose" die Stadt vor extremem Hochwasser - nicht der Prophet, sondern ein "elektromechanisches Versuchsmodul"
Die tiefsten Bereiche der Stadt, etwa zwei Prozent ihrer Fläche, werden bereits überflutet, wenn der Wasserspiegel auf 90 Zentimeter über dem mittleren Meeresspiegel ansteigt. Bei einem Pegel von 200 Zentimetern darüber stehen mehr als 90 Prozent der Altstadt Venedigs unter Wasser.
Steigt der Wasserpegel über die Marke von 130 Zentimetern, schützt seit kurzem Mose die Stadt. Damit ist nicht der biblische Prophet gemeint, der einst das Rote Meer geteilt haben soll. Mose steht als Abkürzung für "Modulo Sperimentale Elettromeccanico", auf Deutsch etwa "elektromechanisches Versuchsmodul".
Es besteht aus 78 grellgelben Fluttoren, die zum Schutz Venedigs aus dem Meer an die Wasseroberfläche hochgeklappt werden. Sie bilden dann eine etwa 1,6 Kilometer Barriere zwischen der Adria und der Lagune. Jedes dieser Tore ist etwa 30 Meter hoch, 20 Meter breit, fünf Meter dick und 250 Tonnen schwer.
Seit 2020 wurden die Hochwassersperren 84 Mal hochgefahren
Droht kein Hochwasser, liegen die Barrieren mit Wasser gefüllt am Meeresgrund. Bei Bedarf wird das Wasser per Luftdruck herausgepresst und sie erheben sich an die Wasseroberfläche. Im Sommer 2020 ist das System in Betrieb genommen worden. Seitdem wurden die Sperren 84 Mal hochgefahren, zuletzt in der Nacht zum 27. März.
Lange Zeit war Mose in Italien das, was der Berliner Flughafen BER oder der Stuttgarter Hauptbahnhof S21 in Deutschland sind: der Inbegriff des Scheiterns, wenn es um die Umsetzung von Großbauprojekten geht. 2003 legte der damalige Ministerpräsident Silvio Berlusconi den Grundstein, die Fertigstellung war ursprünglich für das Jahr 2011 geplant. Pannen, Korruption und immer weiter steigende Kosten - die aktuelle Zahl liegt bei mehr als sechs Milliarden Euro - begleiteten den Bau.
Experten bezweifeln, dass Mose die Stadt in den nächsten 100 Jahren schützen kann
Daher war der Ärger der Venezianer im November 2019 um so größer, als die schlimmste Überflutung seit 1966 die Lagunenstadt lahmlegte. Der größte Teil der Altstadt stand unter Wasser, Kulturmonumente und die Existenzen zahlreicher Händler wurden zerstört. Selbst das berühmte Caffè Florian am Markusplatz, das laut dem Betreiber Marco Paolini noch nie zuvor wegen Hochwassers hatte schließen müssen, musste für eine Woche den Betrieb einstellen. Mose hätte da schon längst einsatzbereit sein sollen. 187 Zentimeter war das Wasser über den Normalpegel gestiegen. Der Schaden betrug eine halbe Milliarde Euro.
Ein Jahr später ging Mose in Betrieb - und hat sich seither bewährt. Doch eine dauerhafte Lösung ist auch dieses System nicht. Mose könnte schon früher kapitulieren als von den Erbauern berechnet. Mose "kann Venedig und die Lagune in den nächsten 100 Jahren vor Gezeiten von bis zu drei Metern Höhe und vor einem Meeresspiegel-Anstieg von bis zu 60 Zentimetern schützen", heißt es auf der offiziellen Internetseite des Projektes. Experten bezweifeln das.
Die Schließungen der Barriere haben auch Auswirkungen auf das Ökosystem der Lagune
"Viel hängt davon ab, wie gut es uns gelingt, den Klimawandel zu bekämpfen", sagt Carlo Giupponi, Professor für Umweltökonomie an der Universität Ca Foscari in Venedig der Online-Zeitung "Venezia Today". Die positivsten Vorhersagen gingen von einem Anstieg des Meeresspiegels um 20 bis 30 Zentimeter aus. Die pessimistischsten von bis zu 70 Zentimetern. Außerdem sinkt die Stadt Venedig jedes Jahr um drei bis vier Millimeter ab. Demnach könnte das Mose-System zwischen 2060 und 2070 übermäßig belastet werden.
Dazu kommt: Immer häufigere Schließungen der Barriere hätten auch Auswirkungen auf das Ökosystem der Lagune. Werden die Fluttore hochgefahren, halten sie nicht nur das Hochwasser ab, sie schränken auch den Wasseraustausch zwischen der Lagune und dem Meer ein. Umweltschützer hatten bereits während der Bauphase immer wieder gegen Mose demonstriert. Sie fürchten, dass durch das fehlende Meerwasser und die ausbleibende Bewegung nicht mehr genug Sauerstoff in die Lagune gelangt, was zu Veralgung und Fischsterben führen kann. Giovanni Cecconi, Wasserexperte an der Universität Ca Foscari, sagte schon vor der Inbetriebnahme 2020, dass es nötig sei, "schon jetzt über Mose hinaus zu denken."
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