Venedig ist eine Ansammlung echter und vermeintlicher Klischees – und trotzdem wunderschön. Genau wie der Markusdom, der immer viel mehr sein wird als schnöde Cappuccino-Kulisse. Zum Beispiel, weil sich hier die Knochen des gleichnamigen Evangelisten höchstpersönlich befinden sollen.

Katholischer gar als Rom zu sein, rühmte sich ja einst die prachtvolle Lagunenstadt. Die "Serenissima" war zu allen Zeiten eine einmalige Stadt; vor allem war sie eine Metropole weltläufiger Kaufleute, in der man freier und mutiger dachte als anderswo.

Selbstverständlich war man hier binnen kürzester Zeit über das im Bilde, was sich seit dem Herbst 1517 nördlich der Alpen in Sachsen und andernorts in "Germania" so alles tat; dass da ein Augustinermönchlein namens Martin Luther enormen Zulauf hatte mit der These, die römischen Ablässe seien wertlos, häretisch gar – was man wiederum in Rom als Ketzerei ansah.

Venedig: »Der Canale dei Maranni, wo die Inquisitoren des Staates die Verurteilten ertränken ließen«: Aquatinta von Giovanni Maria de Pian (1759/64-1800) nach einer Vorlage von Francesco Galimberti (1755-1803).
Ketzer starben in Venedig nicht auf dem Scheiterhaufen, sondern in der Lagune: »Der Canale dei Maranni, wo die Inquisitoren des Staates die Verurteilten ertränken ließen«. Aquatinta von Giovanni Maria de Pian (1759/64-1800) nach einer Vorlage von Francesco Galimberti (1755-1803). Die Grafik entstand Ende des 18. Jahrhunderts in den letzten Jahren der Seerepublik Venedig (Museo Correr, Gabinetto Disegni e Stampe, inv. St. Gherro 251).

Parallelen zu Luther

Nicht wenige in Venedig sahen die Sache damals aber kaum anders als die im Norden. Bezeugt ist, dass der reiche venezianische Patrizier Gasparo Contarini bereits am Karsamstag 1511 so etwas wie ein Turmerlebnis hatte. Allerdings im Beichtstuhl, wo ihm offenbar wurde, dass Erlösung allein aus Gnade durch den Glauben geschehe. Und wenig später, 1513, behelligten venezianische Kamaldulenser-Mönche Papst Leo X. mit einem Programm zu einer tief greifenden Kirchenreform, die bei Luther nicht auf Ablehnung gestoßen wäre, hätte er sie gekannt.

Kurz: Die Reformation lag auch in Italien in der Luft – und besonders im international vernetzten Venedig, wo man zwar katholisch war, aber auch selbstbewusst gegenüber Rom.

Das Gebiet der mächtigen Republik reichte vom Gardasee bis nach Kreta, ihr Einfluss noch weiter. Griechen, Armenier, Juden waren ständig in der Stadt. Und Scharen von deutschen Kaufleuten. Sie brachten die neuesten Nachrichten von der anderen Seite des Gebirges mit. Und natürlich auch die neuen Ideen.

Fondaco dei Tedeschi in Venedig
Von hier aus kam die Reformation nach Venedig: Der "Fondaco dei Tedeschi", das deutsche Handelshaus in Venedig, der Turm der Kirche San Bartolomeo, in dem die Händler ihre Altäre hatten, und die weltberühmte Rialtobrücke.

Das Zentrum der Händler aus den deutschen Landen war der "Fondaco dei Tedeschi" im Herzen der Stadt, gleich neben der Rialtobrücke. Von hier aus verbreiteten sich die Gedanken der Reformation in Venedig und Italien, hier wurde – jahrhundertelang strikt im Verborgenen – evangelisch Gottesdienst gefeiert.

Cristina Gregorin arbeitet seit 1991 als Kunstführerin in Venedig. Nebenbei engagiert sie sich in einer Bürgerinitiative für den Erhalt der von Verfall und Massentourismus bedrohten schönsten aller Städte. In dem üppig bebilderten Bändchen "Ketzerisches Venedig" nimmt die promovierte Kunsthistorikerin die weithin unbekannte protestantische Geschichte der Lagunenstadt in den Blick. Es öffnet die Augen und sollte bei der nächsten Venedigreise unbedingt im Handgepäck sein.

Die "Serenissima", die alte Republik Venedig, musste in einem von Napoleon zur religiösen Toleranz gezwungenen Europa erst einmal untergehen, damit es 1812 eine "offizielle" lutherische Kirche geben konnte. Sie steht bis heute im "Sestiere" (Stadtviertel) Cannaregio am Campo SS. Apostoli (Platz der heiligen Apostel), ebenfalls nur wenige Schritte von der Rialtobrücke entfernt.

Zwei Briefe Luthers an die Evangelischen in Venedig

Das heißt nicht, dass es keine Schikane mehr gegeben hätte für die Protestanten in Venedig: Den Haupteingang ihrer Kirche – die eigentlich eher aussieht wie eine Villa und früher Versammlungsstätte einer frommen Bruderschaft war – durften sie nicht benutzen, nur einen Nebeneingang. Die demütigende städtische Auflage gab es bis 1866, als der Veneto zum neuen Königreich Italien kam. Es war König Vittorio Emanuele persönlich, der bei einem Besuch in Venedig der protestantischen Gemeinde gestattete, ihre Kirche endlich durch das Hauptportal betreten zu können.

Es gibt zwei Briefe Martin Luthers an die Evangelischen in Venedig und im Veneto, weitere von Melanchthon und anderen Reformatoren. Sie belegen zweierlei: wie weit verbreitet die Gedanken der Reformation hier waren – und wie sehr sie und ihre Anhänger verfolgt wurden.

Bis ins frühe 17. Jahrhundert betrafen fast 850 Ketzerprozesse Tausende Menschen direkt oder indirekt, Angeklagte, Zeugen und Informanten. Wer in der Seerepublik zum Tode verurteilt war, wurde in der Lagune ertränkt. Etwa 20 Anhänger der Reformation traf dieses grausame Schicksal. Andere starben im Kerker oder auf venezianischen Galeeren. Oder sie wurden der römischen Inquisition ausgeliefert. Einer von denen, die im Canale dei Marani – irgendwo zwischen Murano, der heutigen Friedhofsinsel San Michele und der Insel San Pietro di Castello – ersäuft wurden, war der Franziskaner Baldo Lupetino (1492/1502-1556).

Reformator Matthias Flacius (1520-1575)
"Fläz": der aus Venedig stammende Reformator Matthias Flacius (1520-1575).

Lupetino stammte aus dem istrischen Städtchen Albona, das heute kroatisch Labin heißt, aber damals zur Republik Venedig gehörte. Als 1520 auf dem Campo Santo Stefano erstmals lutherisch gegen Ablass und kirchlichen Ämterhandel gepredigt wurde, war der junge Mönch elektrisiert. Er las, was er in die Finger bekommen konnte, und das war nicht wenig. Venedig war eine Stadt der Drucker, der Bücher, der Leser.

Und Leserinnen: Von der Patrizierin Foscarina Venier (einer Dichterin zudem) und ihrem Sohn Francesco hat man es schriftlich, dass sie Schriften von Martin Luther gelesen hatten: Sie mussten um Absolution bitten. Der erste derartige Fall, in dem die Inquisition in Venedig gegen die Verbreitung von Luther-Schriften einschritt, ist bereits für 1520 überliefert.

Baldo Lupetino, der italienisch und kroatisch predigte, stieg zum Provinzial des Konvents S. Francesco della Vigna in Venedig auf. Die zu seiner Zeit im Bau befindliche Kirche in der Nähe des Arsenals steht heute noch. Baldo war es, der seinen Neffen Matthias Flacius mit Luthers Gedanken und reformatorischen Schriften in Kontakt brachte. Er riet ihm zu einem Studium in Deutschland. Tatsächlich machte sich Flacius 1539 zunächst nach Basel auf, studierte dann in Tübingen und schließlich ab 1541 in Wittenberg bei Martin Luther und Philipp Melanchthon höchstpersönlich.

Reformator Flacius im Streit mit Philipp Melanchton 

Schnell war der Venezianer dort selbst Professor für Hebräisch. Im Streit mit den Anhängern Philipp Melanchthons langte der Gnesiolutheraner ("echte Lutheraner") Flacius nach dem Tod Luthers dann aber verbal derart zu, dass seine Flegelhaftigkeit im deutschen Sprachraum sprichwörtlich wurde. Er war ein solcher Streithansel, dass man ihn 1561 seines Professoren- und Superintendentenamts in Jena enthob. Über Regensburg, Antwerpen, Straßburg und Frankfurt zigeunerte er danach durch Europa. In seine katholische Heimat Venedig kehrte der streitbare Protestant nicht mehr zurück.

Als Matthias gerade in Wittenberg Fuß fasste, überschlugen sich in Venedig für seinen Onkel die Ereignisse. In der Fastenzeit 1541 hatte der Franziskaner auf der Insel Cres gepredigt. Und dabei die Existenz eines Fegefeuers geleugnet und dass man sich mit guten Werken von seinen Sünden freikaufen könne. Ein bisschen Prädestinationslehre war auch dabei – jedenfalls zeigte ihn sein Mitbruder Jacopo Curzolo wegen Häresie bei der Inquisition an.

Es war eine Wendezeit, in der man auch in Venedig die Zügel anzog: 1542 organisierte Papst Paul III. die Inquisition neu zu einer Waffe gegen die Reformation. Und als 1547 die Schmalkaldische Bund der deutschen protestantischen Fürsten gegen Kaiser Karl V. eine harte militärische Niederlage erlebte, war für die Politiker in der Lagunenstadt endgültig klar, dass sie auf der Seite Roms bleiben würden. Neben den Protestanten gerieten nun auch die Juden ins Visier der Verfolgung.

Am 4. Dezember 1542 wurde Baldo verhaftet. Er sollte nie wieder freikommen. Es half auch nichts, dass sein Neffe aus Wittenberg anreiste, um den Dogen Pietro Lando (1462-1545) zur Gnade zu erweichen. Im Gepäck hatte Matthias Flacius einen Brief des Kurfürsten von Sachsen, Johann Friedrich (1503-1554), den Melanchthon verfasst hatte. Friedrich bat den Dogen um Großmut. Die deutschen protestantischen Fürsten unterstützten das Anliegen mit ihren Unterschriften.

Von reichen Pfeffersäcken im "Fondaco dei Tedeschi", die es mit der Reformation hielten, kamen Geldspenden. Auch Matthias durfte den Franziskaner besuchen. Aber dann wurde dieser doch zu einer Geldstrafe von 100 Dukaten und lebenslangem Gefängnis verurteilt.

"Er sei der größte Lutheraner auf der Welt, der im Stande ist, sogar im Gefängnis Anhänger zu gewinnen", mussten Venedigs katholische Kirchenführer nach ein paar Jahren konstatieren. Man hatte vergessen, Baldo zu einem Widerruf zu zwingen und versuchte das 1547 in einem zweiten Prozess nachzuholen. Baldo weigerte sich. Am 28. Oktober wurde er erneut verurteilt – diesmal zum Tode auf dem Scheiterhaufen. Warum der Doge die Strafe erneut in lebenslanges Gefängnis änderte, weiß man nicht. Vielleicht hoffte man immer noch auf einen freiwilligen Widerruf.

Ein anderer venezianischer Reformator setzte sich für ihn ein: Pier Paolo Vergerio war 1536 zum Bischof seiner Geburtsstadt Capodistria (heute Koper) ernannt worden, obwohl er mit der Reformation sympathisierte. Ihm gelang 1549 rechtzeitig die Flucht. Er wurde Diplomat des württembergischen Herzogs Christoph (1550-1568). Auch der versuchte, in Venedig ein gutes Wort für Baldo einzulegen – vergeblich.

Es kam zu einem dritten Gerichtsverfahren gegen Fra’ Baldo: Am 30. August 1556 wurde der inzwischen 54-Jährige (nach anderen Quellen war er zehn Jahre älter) erneut zum Tod verurteilt – diesmal durch Ertränken, mit vorheriger Entziehung der Priesterwürde. Und diesmal machte Venedig Ernst: In der Nacht vom 17. auf den 18. September 1556 stieß man Baldo mit einem Sack Steinen an den Füßen in die Lagune.

Buch-Tipp

Ketzerisches Venedig. Zwischen Reformation und Inquisition

Luthers Schriften lösten im Italien der frühen Neuzeit eine heftige und brisante Diskussion aus. Jede von der offiziellen katholischen Kirchenlehre abweichende Ansicht wurde als Irrlehre hart bestraft. Wer wegen seines evangelischen Glaubens von der Inquisition verfolgt wurde, entschied sich häufig für einen Widerruf und lebte seinen Glauben fortan im Geheimen. Gegenüber ausländischen Protestanten zeigte sich Venedig ungleich toleranter: Gottesdienste waren in den Vertretungen möglich, offizielle Kontrollen im Umfeld des "Fondaco dei Tedeschi" (dem deutschen  Handelshaus) unterblieben.
Der opulent gestaltete Führer stellt jene Orte vor, an denen die neue Botschaft des Evangeliums entstand, welche das Leben von Patriziern und Intellektuellen, Künstlern und einfachen Bürgern veränderte. Er erinnert an die ersten mutigen  Schritte zur Freiheit des Denkens – weg von den dogmatischen Vorgaben, die von weltlichen Institutionen wie auch von der Römischen Kirche aufgezwungen wurden.

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