Die Geschichte geht so: Ein Mann und eine Frau leben in einem Garten. Ihr Leben ist ziemlich gut. Sie verstehen sich hervorragend miteinander und mit den anderen Bewohnern des Gartens: Tiere und Pflanzen jeder Art. Der Mann und die Frau essen nur die Pflanzen, mit den Tieren haben sie ein eher entspanntes Verhältnis.
Vor der Sünde: Zufriedenheit und Glück
Außerdem gibt es da noch Gott. Der Mann und die Frau verstehen sich gut mit Gott, wahrscheinlich sind sie sogar befreundet. Sie sind ihm ähnlich, Abbilder Gottes. Gott schaut ihrem Leben im Garten zu und freut sich darüber - genauso war das gedacht. Der Mann und die Frau lieben Gott, sie sind zufrieden und glücklich und würden nie etwas ändern.
Bis zu diesem einen Tag. Ein Apfelbaum, mitten im Garten. Nur von dem darf nicht gegessen werden, alle anderen Früchte im Garten schon, was merkwürdig ist. Irgendwann werden die beiden Menschen im Garten neugierig - oder war es nur die Frau? Hat nicht auch ein sprechendes Reptil eine Rolle gespielt? Wie dem auch sei: ein Biss in die verbotene Frucht hat gereicht. Gott hat’s gemerkt und seitdem heißt es für die Menschen: raus aus dem Garten, rein in eine Welt, die ganz anders ist.
Kalt, feindselig, leer und verlassen.
Die Tiere sind jetzt zur Gefahr geworden und zu Konkurrenten um die hart erarbeitete Nahrung, denn auch die Pflanzen sind nicht mehr reichlich vorhanden. In mühsamer Arbeit müssen die Menschen sie selbst anbauen. Aber nicht nur die Welt hat sich verändert. Auch die Frau und der Mann selbst sind nicht mehr dieselben. Auf einmal haben sie Schmerzen.
Gott ist zornig, die Menschen sind allein
Seit dem Biss in den Apfel wollen sie nicht mehr nackt sein, sondern haben zum ersten Mal das Bedürfnis, sich mit Kleidung zu bedecken, zu schützen. Vor der Kälte, den Strapazen, neuen Feinden, voreinander. Vielleicht auch vor Gott, denn obwohl Gott nicht mehr so richtig da ist, nicht mehr mit ihnen spricht, sich irgendwie entfernt hat, haben sie eine dunkle Ahnung, dass Gott sie doch sieht. Nur nicht mehr mit Freude und Wohlgefallen. Gott ist zornig, enttäuscht. Die Menschen sind allein.
Das Christentum hat - gelinde gesagt - ein kompliziertes Verhältnis zum Thema Sünde. Die Vorstellung von allen Menschen als tief und unlösbar verstrickt in Verhältnisse, die sie immer weiter weg von Gott und von seiner eigenen Bestimmung führen, hat die westliche Kultur tief geprägt. Denn für die christliche Tradition waren lange alle Menschen als Nachkommen Adams und Evas Erb*innen und damit mitschuldig an diesem uralten Vergehen, dem sogenannten Sündenfall.
Jahrhundertelang mit Ursprung der Menschheit gleichgesetzt
Über Jahrhunderte wurde diese Geschichte von der Schöpfung der Welt, die ganz am Anfang des Alten Testaments steht und mit der Vertreibung aus dem Garten Eden endet, mit dem historischen Ursprung der Menschheit gleichgesetzt. Dass die Welt, die wir kennen, eben kein schöner Garten ist, dass das Leben mühsam und schmerzhaft sein kann und schließlich mit dem Tod enden muss, wurde auf die große Schuld der beiden ersten Menschen zurückgeführt.
Und diese Schuld tragen wir weiter. Denn wir haben ja offensichtlich nicht gelernt aus der Geschichte mit Adam und Eva, sondern widersetzen uns weiter dem Willen Gottes. Nur eine Generation nach den beiden ersten Menschen begeht in der Bibel Kain den ersten Mord. Noch viel öfter werden Menschen einander verletzen, eigensüchtig handeln. Der Weg scheint immer weiter von Gott wegzuführen. Das kommt dem, was einmal "das Böse” genannt wurde und immer wieder in Gestalt des Teufels in der Geschichte des Christentums aufgetaucht ist, gerade recht.
Für die böse Macht, die genau das Gegenteil von Gott ist, sind die Menschen nur zu anfällig. Denn sie verspricht alles, was auf der Welt etwas gilt. Sie kann alles möglich machen, wenn man nur Ja sagt. Wer könnte die Menschen daran hindern? Gott schweigt, hat sich zurückgezogen. Und die Menschen sündigen weiter.
Aber gibt es denn keinen Ausweg aus der Misere? Und wenn nicht: könnte man dann nicht gleich aufgeben? Wenn der Mensch sich aus seiner eigenen Verstrickung in die Sünde und das Böse nicht lösen kann - warum sollte er es überhaupt versuchen?
Der Weg aus der Sünde heraus zu Gott und einem gottgefälligen Leben ist das, was das Christentum seit seiner Entstehung vielleicht am meisten beschäftigt hat. Eng damit verbunden waren und sind Vorstellungen vom Leben nach dem Tod, zum Beispiel von einem Himmel und einer Hölle. Ein sündhaftes Leben, so dachte man im christlichen Mittelalter, führt unweigerlich zur Verdammnis. Sündenkataloge, Abstufungen zwischen schlimmen und nicht ganz so unverzeihlichen Sünden, werden formuliert.
Die sieben Hauptlaster, die das katholische Lehramt schließlich festsetzt, sind an den 10 Geboten orientiert: Stolz, Geiz, Wollust, Zorn, Völlerei, Neid und Trägheit. Wer in ihrem Sinne handelt, kann seine Vergehen kaum wiedergutmachen und muss auf schwerste Konsequenzen gefasst sein.
Ewiges Heil als einziger Trost
Diese Zuschreibung von Sünden, denen entsprechende Tugenden gegenübergestellt wurden, sind heute selbst in der katholischen Kirche nicht mehr zeitgemäß. Sie stellen einen menschlichen Versuch dar, auf Grundlage der Bibel menschliches Verhalten einzustufen und zu reglementieren. Gleichzeitig versuchte man, ein möglichst gottgefälliges Leben zu führen, denn ewiges Heil als Konsequenz und Ziel eines mühsamen irdischen Lebens war das einzige, was echte Hoffnung stiften und Trost schaffen konnte.
Luther: Mensch von Natur aus sündig
Die klassische protestantische Antwort auf die Frage nach der Sünde lieferte bereits Martin Luther und stellte damit das damals vorherrschende Menschenbild grundsätzlich infrage. In Luthers Verständnis fruchten alle Versuche, sich auf Erden von Sünde fernzuhalten, nicht. Denn der Mensch ist von Natur aus sowohl ganzheitlich sündig als auch völlig unfähig, sich selbst aus dieser Vorbelastung zu befreien.
Selbst eine vollkommen tugendhafte Lebensweise ist unwesentlich für das Leben nach dem Tod, denn die Sünde ist ein Zustand, der den ganzen Menschen betrifft und bemisst sich nicht an einzelnen Handlungen.
Die einzige Alternative, die einzige Hoffnung auf eine Erlösung aus diesem Zustand ist der Glaube.
Die Beziehung von Gott und Mensch im Glauben hat mit der Reformation eine neue, verschärfte Bedeutung erhalten. Denn der Mensch ist, so Luther, immer beides gleichzeitig: sündig und trotzdem gerecht, durch Gottes Gnade und die Präsenz Jesu Christi auf Erden in einen neuen, erlösten Zustand erhoben. Seine Sünde wiegt schwer und er selbst ist blind für sie, kann sie gar nicht erkennen, geschweige denn Besserung anstreben.
Doch diese Verstrickung und die Schuld, die mit ihr einhergeht, wurde wiedergutgemacht durch Jesus Christus, der im traditionellen christlichen Verständnis für die Sünden der Menschen gestorben ist und sie dadurch aufgehoben hat. Gott spricht dem Menschen allumfassende Vergebung zu. Vor dem Hintergrund dieser Vergebung spielen die einzelnen Vergehen und Fehltritte der Menschen auf Erden keine Rolle mehr.
Sünde verwenden wir heute scherzhaft
Heutzutage sind Vorstellungen von Sünde nicht mehr Teil unseres alltäglichen Lebens. In der Sprache wird der Begriff oft abschwächend-scherzhaft verwendet: als Verkehrssünde, Modesünde. Man ist insgesamt vorsichtiger geworden darin, anderen ohne weiteres den Sünden-Stempel aufzudrücken.
Gleichzeitig zeigt sich weiterhin in der Realität, in der wir leben: es gibt eine Schattenseite menschlichen Handelns. Worte, Handlungen, Einstellungen, die nicht richtig sind oder zu sein scheinen. Manchmal meinen wir das klar zu erkennen: als menschliches Verhalten, das anderen schadet und deshalb innerhalb von Rechtssystemen geahndet wird.
Wenn ein Gericht entscheidet, dass das Fehlverhalten eines Menschen eine adäquate Strafe nach sich ziehen soll, kommt es uns häufig so vor, als sei hier ein Ausgleich geschehen, etwas wieder eingerenkt worden. Vorschnell denken wir, die Welt sei wieder in Ordnung. Dabei ist es gerade das, worauf Sünde uns hinweist: die Welt und die Menschen in ihr sind eben nicht in Ordnung. Nicht nur diejenigen sind Sünder*innen, deren Verhalten so auffällig ist, dass sie rechtliche Konsequenzen daraus ziehen müssen. Sondern wir alle.
Manche sehen bestimmte Personengruppen als sündhaft
Auch weil das nur schwer zu verstehen und noch schwerer zu akzeptieren ist, finden sich gerade in religiösen Gruppen weiterhin problematische Versuche, Sünde zu definieren. Bestimmte Personengruppen, etwa solche, die sich als LGBTQ+ identifizieren, werden von manchen Christ*innen als sündhaft beschrieben. So legitimieren diese Gruppen für sich ausgrenzende, diskriminierende Muster. Dass solche Zuschreibungen weder in ein christlich-protestantisches Menschenbild passen noch irgendeine solide biblische Grundlage finden, wird dabei ausgeblendet.
Stattdessen wird - wieder einmal - versucht, mit menschlichen Mitteln eine Art Messgerät für das zu finden, was man als einen christlichen Lebenswandel definiert. Doch immer dann, wenn Christ*innen einander den "schwarzen Peter” zuschieben, ist eine Grenze überschritten.
Abgesehen davon, dass die Vergebung in Gottes Hand liegt, verkennen solche Versuche völlig, dass die allgemeine Sündhaftigkeit alle Menschen betrifft, allen zueigen ist und daher vielmehr eine einende Funktion haben sollte als eine ausgrenzende.
Der Theologe Paul Tillich verwendet den Begriff der "Entfremdung", um den menschlichen Sündenzustand zu beschreiben. Seit der Vertreibung aus dem Paradies sind wir nicht nur von Gott entfernt und entfremdet, sondern auch von uns selbst, von dem, wozu wir eigentlich geschaffen sind. Diese ursprüngliche "Essenz" des Menschen, wie Tillich sie nennt, ist für uns, die wir nach dem Sündenfall in die viel brüchigere, defizitäre "Existenz" unseres Lebens in der Welt gefallen sind, nicht mehr verfügbar.
Ein - ganz unbiblisches - Sprichwort sagt: "Wer durchs Leben geht, zertritt Gras." Darin steckt viel Wahrheit, denn jeder Mensch macht sich auf irgendeine Weise schuldig. Manchmal wiegt die Schuld schwer, und die, auf denen sie lastet, scheinen nicht bereit zu sein, dafür Verantwortung zu übernehmen.
Kann man den moderneren, weniger belasteten Begriff "Schuld” mit der "Sünde” gleichsetzen?
In gewisser Weise schon. Denn Sünde ist nicht nur ein unveränderbarer Zustand, sondern kann sich durchaus auch in unseren aktiven Entscheidungen und Handlungen zeigen – oder eben nicht. Als Menschen ist uns von Gott Freiheit gegeben, die uns einen weiten Handlungsspielraum eröffnet. Was wir tun, wie wir in der Welt handeln und mit unseren Mitmenschen umgehen, liegt weitgehend in unserer eigenen Hand. Uns ist es freigestellt, wie wir diese Macht gebrauchen oder missbrauchen.
Für Christ*innen kann das so verstanden werden: die uns von Gott gegebene Freiheit zu missbrauchen, zum Beispiel indem wir aus egozentrischen Beweggründen nach Macht streben, wäre eine Betonung des Sündenzustands, ohne dass die Befreiung daraus durch Gott, durch den Glauben, bereits mitbedacht wird. Das heißt: wer so handelt, verharrt in dem Zustand, der christlich gesprochen Teil unserer DNA ist, aber weigert sich, anzuerkennen, dass er im Glauben an Gott diesen Zustand schon hinter sich lassen kann. In Hoffnung auf den Gott, der alle Sünden vergeben kann und auch vergibt. Das ist nicht einfach, gewissermaßen ist es eine Lebensaufgabe.
Jenseits von Eden
Als Menschen werden wir nie in den Garten Eden zurückkehren. Denn der steht für einen Ort, an dem es nicht nur keine Schmerzen, keine Arbeit und kein Lebensende gibt – sondern auch keine Freiheit. Im Paradies existierten Richtig und Falsch nicht, weil die Menschen noch keine Möglichkeit zur freien Entscheidung hatten.
Erst mit dem bewussten Überschreiten der im Garten geltenden Regeln kommt diese zentrale Erkenntnis - in den Worten der klugen Schlange aus der biblischen Geschichte:
Ein besseres Werkzeug für unser Leben in der "echten” Welt hätten wir nicht bekommen können. Der Biss in den sauren Apfel hat sich gelohnt.