Schon seltsam: Von einer der berühmtesten Figuren der Menschheitsgeschichte sind fast nur die letzten drei Jahre seines Erwachsenenlebens bekannt. Zwischen Geburt und dem Beginn des öffentlichen Wirkens des Jesus von Nazareth klaffen rund 30 Jahre Stille.
Jesus als Baby, ja, den kennt man, die dramatischen Umstände seiner Geburt auch. Seine Eltern sollen den Neugeborenen gewindelt und in einen Futtertrog, eine Krippe gelegt haben. Im Alter von acht Tagen wurde Jesus, wie jedes jüdische Kind, beschnitten (Lukas 2, 21 ff.) und bald darauf nach Jerusalem in den Tempel gebracht, auch dies ein jüdisches Ritual. Kurz darauf fliehen Josef und Maria auf Geheiß eines Engels mit ihrem Baby nach Ägypten – so entkommen sie den Schlächtern des römischen Besatzungskönigs Herodes, der alle Neugeborenen töten lässt.
Drachen, Löwen und Leoparden hätten Jesus angebetet
Viele Legenden berichten von Wundern, die Jesus dort schon als Kind vollbracht haben soll. Unter anderem soll er, um seiner hungrigen Mutter Essen zu verschaffen, eine Palme dazu gebracht haben, sich zu beugen und ihre Datteln zu geben. In einem Götzentempel soll Jesus 35 Bilder falscher Gottheiten zerstört haben. Drachen, Löwen und Leoparden hätten Jesus angebetet, erzählen koptische Legenden.
Als der Tyrann Herodes gestorben ist, so berichtet die Bibel, zieht die "Heilige Familie" nach Nazareth (Matthäus 2, 13-23), eine Stadt in den Hügeln Galiläas. Dort arbeitet Vater Josef als Zimmermann. Alles spricht dafür, dass Jesus in einer traditionell jüdischen Familie mit mehreren Geschwistern aufwuchs. Die Eltern waren für die Erziehung zuständig; vermutlich hat Jesus eine an die Synagoge angegliederte Schule besucht. "Jesus nahm zu an Weisheit", schreibt Lukas.
Der Evangelist Lukas durchbrach als Einziger das Verschweigen der Kindheit Jesu – mit einer Geschichte, die noch heute als Anschauungsmaterial in Pubertäts-Ratgebern für gestresste Eltern gehört. Als Jesus zwölf Jahre alt war, reisten Maria und Josef mit ihm wie in jedem Jahr zum Passafest nach Jerusalem. "Als die Tage vorüber waren und sie wieder nach Hause gingen, blieb der Knabe Jesus in Jerusalem, und seine Eltern wussten’s nicht. Sie meinten aber, er wäre unter den Gefährten, und kamen eine Tagesreise weit und suchten ihn unter den Verwandten und Bekannten." (Lukas 2, 43 ff.) Doch Jesus war nicht zu finden.
Verzweifelt eilten Josef und Maria nach Jerusalem zurück. Erst nach drei Tagen fanden sie den Sohn "im Tempel sitzen, mitten unter den Lehrern, wie er ihnen zuhörte und fragte. Als sie ihn sahen, entsetzten sie sich". Maria stellt ihn zur Rede: "Warum hast du uns das angetan? Dein Vater und ich haben dich mit Schmerzen gesucht." Jesus antwortete wie ein heutiger Teenie, der der Kontrolle seiner Eltern gerne mal ausweicht: "Warum habt ihr mich gesucht?" Doch dann fuhr er fromm fort: "Wisst ihr nicht, dass ich sein muss in dem, was meines Vaters ist?"
Verständnislos hörten sich die Eltern an, was ihr Junge da sagte, und nahmen ihn mit nach Hause. Ob es Josef, der den Sohn gerade noch voller Sorge gesucht hatte, sehr verletzte, das zu hören: "Nicht du bist mein Vater, sondern mein wirklicher Vater ist viel größer und mächtiger, und zu ihm kehre ich nun zurück"? Die tiefenpsychologische Bibelauslegung vermutet in dieser Begebenheit die symbolische Darstellung der Lösung eines pubertierenden Jungen von seinen Eltern. Ein normaler und nötiger Entwicklungsschritt auf dem Weg zum Erwachsenwerden.
Den ersten Christen war an Jesu Kindheit vor allem wichtig, dass Jesus in Bethlehem geboren war – so konnte bewiesen werden, dass er wirklich der verheißene Messias ist. Erst später machten sich Menschen unabhängig von historischen Quellen daran, sich mit viel Fantasie Jesu Kindheit auszumalen. Die Frage lag nahe: Warum sollte Jesus, wenn er denn der Sohn Gottes war, erst nach seiner Taufe Wunder getan haben, warum nicht schon als Kind? So entstanden viele Wunderberichte, die die Menschen bis ins Mittelalter verzückten. Zum Beispiel dieser: Ein Mann verletzte sich beim Holzspalten, er drohte zu verbluten. Jesus sah das und heilte ihn. Die Menge rief verblüfft: "Der Geist Gottes wohnt in diesem Knaben!"
Jesus wurde gnadenlos versüßlicht
Oder eine Geschichte aus der Schule: Jesus legte sich mit einem Lehrer an – so sehr, dass dieser ihn auf den Kopf schlug. Jesus verfluchte den Lehrer, der ohnmächtig wurde und aufs Gesicht fiel. Als seine Eltern davon erfuhren, gab es Stress. Vater Josef ermahnte Maria, sie möge Jesus am besten nicht mehr rausgehen lassen, "denn alle, die ihn ärgern, sterben".
Mehr als tausend Jahre, nachdem diese Legenden entstanden waren, flackerte nochmals neues Interesse am Jesuskind auf, diesmal in einer romantisch-verkitschten Version. Jesus wurde gnadenlos versüßlicht zum "herzliebsten" Jesulein, zum holden Knaben mit lockigem Haar.
Die merkwürdige Lücke in der Biografie Jesu hat noch andere, teils abenteuerliche Fantasien freigesetzt. Zum Beispiel diese: Die drei Weisen, die dem Jesus-Baby Geschenke brachten (Matthäus 2, 1-12), seien aus Indien gewesen – sie hätten in Jesus nicht den Sohn Gottes, sondern die Inkarnation einer indischen Gottheit gesehen. Folgerichtig sei Jesus als Jugendlicher mit einer Karawane nach Indien gebracht worden; dort sei er in Buddhismus unterwiesen worden und dann nach Israel zurückgekehrt.
Schriftsteller füllen die unbekannte Kindheit Jesu
Neuzeitliche Psychologen schließlich entdeckten Jesus als psychisches Objekt und fragten: Was für eine Kindheit wird er gehabt haben? Wie ist er durch die Pubertät gekommen? Hat er Kindheitstraumata erlebt? Mit ganz neuer Fantasie füllen Schriftsteller die unbekannte Kindheit Jesu.
Literaturnobelpreisträger José Samarago etwa schildert in seinem Roman "Das Evangelium nach Jesus Christus" eine sehr innige Beziehung von Jesus zu seinem Vater Josef. Die Römer hätten Josef fälschlicherweise als Rebell hingerichtet – der gewaltsame Tod seines Vaters habe in dem Kind Jesus ein Trauma ausgelöst und in ihm den Wert der Gerechtigkeit überaus wichtig werden lassen. Und dann gibt es noch die Fotografin Bettina Reims, die das Leben Jesu in künstlerischer Freiheit beeindruckend nachgestellt hat.
Geht es um die Kindheit Jesu, ist Fantasie erlaubt. Vielleicht steckt hinter dem Schweigen der Bibel sogar eine Einladung an die Christen, ihre Fantasie spielen zu lassen.