Der Theologe Werner Thiede beschäftigt sich schon lange mit dem Thema Nahtod-Erfahrungen. Die wissenschaftliche Forschung dazu habe zwar bisher keinen Beweis für ein Leben nach dem Tod gefunden, Indizien deuteten aber darauf hin, dass nach dem Tod weitergehe, sagt er im Sonntagsblatt-Gespräch: "Die Erkenntnisse der Wissenschaft auf diesem Gebiet erzeugen auch bei vielen Atheisten eine gewisse Nachdenklichkeit, und das zu Recht."

Thiede ist außerplanmäßiger Professor für Systematische Theologie an der Universität Erlangen-Nürnberg und Pfarrer der bayerischen Landeskirche im Ruhestand. Er hat zahlreiche Bücher veröffentlicht, darunter "Unsterblichkeit der Seele? Interdisziplinäre Annäherungen an eine Menschheitsfrage" (2021), in dem er ein Kapitel Nahtod-Erfahrungen widmet. 

Herr Professor Thiede, kann uns die Forschung zu Nahtod-Erfahrungen die Frage nach einem Leben nach dem Tod beantworten?

Werner Thiede: Die internationale Nahtod-Forschung ist sich weithin einig darin, dass man nicht von einem Beweis für das Leben nach dem Tod sprechen kann. Es gibt aber durchaus Indizien, die in die Richtung deuten, dass es nach dem Tod weitergeht. Der Psychiater Bruce Greyson schreibt in seinem neuesten Buch "Nahtod" nach Jahrzehnten einschlägiger Forschung sinngemäß, dass bei seriösem wissenschaftlichem Hinsehen doch sehr viel für ein Überleben des Todes spricht. Und das bedeutet: Auch in unserer stark verweltlichten Kultur wäre die pauschale Annahme unzutreffend, dass die Religionen veraltet wären und jede Hoffnung über das Leben hinaus gleichsam dem Mittelalter zuzuordnen seien.

Es gibt aber doch nach wie vor auch die Position, es handle sich bei Nahtod-Erfahrungen nur um Halluzinationen?

Thiede: Selbstverständlich. Die Psychologin Susan Blackmore etwa hat viel darüber geschrieben, dass man Nahtoderlebnisse auch "materialistisch" deuten könne, als Einfluss von Sauerstoffmangel im Gehirn oder von körpereigenen Morphinen, sogenannten Endorphinen. Die können tatsächlich Erlebnisse erzeugen, die beispielsweise mit LSD-Erfahrungen verwandt sind. Aber es gibt eben auch genügend Indizien, dass da doch mehr im Gange ist.

"Viele aus dem klinischen Tod Zurückgekehrte legen ein erstaunliches Wissen an den Tag, das sie auf normalem Weg eigentlich nicht haben könnten."

Welche Indizien sprechen denn dafür, dass Nahtod-Erfahrungen mehr sind als Hirngespinste?

Thiede: Zum Beispiel legen viele aus dem klinischen Tod Zurückgekehrte ein erstaunliches Wissen an den Tag, das sie auf normalem Weg eigentlich nicht haben könnten. So werden Begegnungen mit abholenden Verwandten und Freunden auf der Grenzlinie interessanterweise immer nur mit solchen gemacht, die tatsächlich bereits verstorben waren. In mehreren Fällen war nicht einmal bekannt, dass die Betreffenden schon gestorben waren. Das gehört zu den eindrucksvollsten Phänomenen auf diesem Gebiet.

Die rein naturwissenschaftlichen Erklärungen überzeugen Sie also nicht?

Thiede: Man sollte Nahtod-Erfahrungen nicht materialistisch plattreden. Ich behaupte nicht, dass es einen Beweis für ein Leben nach dem Tod gibt. Aber kann es hier überhaupt um Beweise gehen? Ich denke vielmehr, dass Gott unser Leben und die ganze Welt so angelegt hat, dass es am Ende aufs Herz ankommt, auf Glauben, auf Vertrauen, nicht auf mathematische oder physikalische Beweise. Und dennoch erzeugen die Erkenntnisse der Wissenschaft auf diesem Gebiet auch bei vielen Atheisten eine gewisse Nachdenklichkeit, und das zu Recht.

Was sind Nahtod-Erfahrungen?

Der Begriff Nahtod-Erfahrung umfasst ein breites Spektrum tiefgreifender persönlicher Erfahrungen bis hin zu sogenannten Transzendenzerfahrungen. Häufig werden diese von Menschen erlebt, die sich in einer lebensbedrohlichen Situation befinden.

Die Forschung kennt eine Reihe von Elementen und Gefühlen, die typisch für Nahtod-Erfahrungen sind: Die Erfahrung eines bewussten Seins ohne physischen Körper, Tunnel-, Licht-, Jenseits- und Weltraumerfahrungen, Gefühle von Liebe, Frieden, Geborgenheit und Schmerzlosigkeit und in wenigen Fällen von Angst und Bedrängnis. Einige Betroffene berichten auch von Begegnungen mit verstorbenen Angehörigen oder Wesen, mit denen sie kommuniziert haben.

Von Nahtod-Erfahrungen wird unabhängig von der Weltanschauung in fast allen Kulturen der Menschheit berichtet. 

Wann hat Ihr Interesse für Nahtod-Erfahrungen begonnen?

Thiede: Schon vor einem halben Jahrhundert. Besonders einschneidend war für mich die Übersetzung des internationalen Bestsellers "Life after Life"" von Raymond Moody ins Deutsche – 1977 unter dem Titel "Leben nach dem Tod". Moody war Arzt und Philosoph und hat erstmals auf etwas breiterer Grundlage Nahtod-Erlebnisse miteinander verglichen. Dabei hat er festgestellt, dass immer wieder recht ähnliche Grundelemente vorkommen - in den verschiedensten Altersstufen, Regionen, Epochen und so weiter. Sein Buch hat mich damals im Theologie-Studium sehr fasziniert, weil die Themenfelder Tod, Jenseits und Auferstehung natürlich eine entscheidende Frage darstellen. Ich habe mich dann jahrelang intensiv mit der Thematik befasst, unter anderem am Institut für Parapsychologie in Freiburg.

Als Theologe muss man aber ohnehin von einem Leben nach dem Tod ausgehen, egal, wie man Nahtod-Erfahrungen bewertet, oder?

Thiede: Ja, es sei denn, man ist Anhänger einer extremen Variante der so genannten Ganztod-Theologie, die besagt, dass der Mensch beim Tod mit Leib und Seele gänzlich und endgültig stirbt. Die ist freilich kaum mit der Bibel und insbesondere dem Neuen Testament zu vereinbaren. Etwas besser steht diesbezüglich schon die andere Variante der Ganztod-Theologie da, der zufolge die ganz und gar gestorbenen Menschen am Ende aller Welt doch wieder aus dem Gedächtnis Gottes hervorgeholt und aus dem Nichts auferweckt werden. Bei näherer Betrachtung stellt sich die Sache im Neuen Testament aber so dar, dass der Tod zwar einerseits einen Bruch darstellt und als Feind bezeichnet wird, auf der anderen Seite jedoch eine Kontinuität im Tod als selbstverständlich vorausgesetzt wird. So heißt es zum Beispiel in 2. Korinther 5,1: "Wenn unser irdisches Haus, diese Hütte, abgebrochen wird, haben wir einen Bau, von Gott erbaut, ein Haus, nicht mit Händen gemacht, das ewig ist im Himmel." Oder Johannes 11,25–26: "Wer an mich glaubt, der wird leben, auch wenn er stirbt; und wer da lebt und glaubt an mich, der wird nimmermehr sterben."

Ein Mensch steht auf einer Schiene, die ins Licht führt

"Der Allmächtige wird seine universale Königsherrschaft irgendwann über jeden Menschen durch die Überzeugungskraft seiner Liebe erringen."

Was aber geschieht dann nach dem Tod mit denjenigen, die nicht an Jesus glauben, womöglich nicht mal von ihm gehört haben?

Thiede: Da gibt es in der Theologie und in den verschiedenen Konfessionen der Christenheit unterschiedliche Auskünfte. Im Neuen Testament macht der 1. Petrusbrief (3,19-21 und 4,6) deutlich, dass das Evangelium von Jesus Christus auch im Bereich der Toten präsent ist. Für die moderne Theologie auf katholischer Seite greife ich hier nur einmal eine Position des verstorbenen Jesuiten Ladislaus Boros heraus: Seiner einflussreichen "Endentscheidungshypothese" zufolge wird  jeder Mensch im Tod vor die ganze Wahrheit gestellt , was ihn ermächtigt, sich endgültig für oder gegen Gott und seinen Sohn Jesus zu entscheiden. Mein Einwand von evangelischer Seite lautet hier: Wenn ein Mensch in diese letztgültige Entscheidung angesichts der ihm vollends aufgehenden Wahrheit gestellt ist, dann wird das die wunderbare, faszinierende Wahrheit der göttlichen Liebe sein, eine Wahrheit, die ausdrückt, was ja auch im Neuen Testament steht: "Gott will, dass alle Menschen gerettet werden." Und schon der Kirchenvater Augustin hat betont, dass das Erbarmen Gottes nicht von der Art ist, dass man ihm noch widerstehen könnte. Das heißt: Der Allmächtige wird seine universale Königsherrschaft irgendwann über jeden Menschen durch die Überzeugungskraft seiner Liebe erringen. Wer jetzt schon ein Christenmensch ist, darf die beglückende Begegnung mit dem Endgültigen schon hier und heute ein Stück weit vorwegnehmen.

Sprich, ich hätte zwar theoretisch die Möglichkeit, mich gegen die offenbar gewordene Wahrheit zu entscheiden, aber praktisch werde ich es niemals tun?

Thiede: Genau. Der große Schweizer Theologe Karl Barth hat das mal auf die sinnige Formel gebracht: Es gibt die Hölle, aber sie steht seit Jesus Christus leer.

Machen deshalb fast alle Menschen in etwa dieselben Nahtod-Erfahrungen durch?

Thiede: Schon 1978 haben die Parapsychologen Karlis Osis und Erlendur Haraldsson herausgefunden, dass diese Grenzerfahrungen meist kulturelle Prägungen aufweisen. Menschen aus Indien beispielsweise schildern gern Begegnungen mit den indischen Totengöttern. Katholiken sehen die Gottesmutter Maria auf sich zukommen. Es sind also offenbar kulturelle und zugleich auch individuelle Einflüsse wirksam, was ja nicht erstaunlich ist. Denn die Visionen in unmittelbarer Todesnähe finden immer noch von einem Gehirn aus statt, das so oder so lebt.

Das würde bedeuten, in Nahtod-Erlebnissen bekommen Menschen nur einen Vorgeschmack aufs Jenseits, quasi eine Sneak Preview?

Thiede: Der dänische Theologe Hans Larsen Martensen beschreibt Nahtod-Erlebnisse in einem Buch, das auch so heißt, als "Schimmer durch den Vorhang". Das halte ich für einen sehr guten Titel, weil er zum Ausdruck bringt, dass das, was in den Visionen gesehen wird, doch etwas noch Vorläufiges ist, etwas Unvollkommenes, irgendwie Durchmischtes. Viele Reanimierte berichten demgemäß, dass sie in ihren Nahtod-Erfahrungen an bildlich ausgedrückte Grenzen kamen, etwa an ein Flussufer oder vor ein geschlossenes Tor, durch dessen Ritzen sie herrliches Licht und wunderschöne Musik wahrnehmen konnten, aber die Grenze blieb bestehen, und sie mussten wieder zurück. Wobei übrigens die meisten gar nicht mehr zurück wollten!

"Man darf Nahtod-Visionen nicht eins zu eins als eine Offenbarung nehmen."

Wenn man diesem Gedanken folgt, wäre dann der Tod kein eindeutig bestimmbares Ereignis, das zu einem ganz bestimmten Zeitpunkt eintritt, sondern ein Übergang, vielleicht in mehreren Etappen?

Thiede: Ja, selbst in der Medizin und Naturwissenschaft geht man davon aus, dass der Tod eher ein Prozess als ein festzulegender Punkt ist. Schon rein körperlich wachsen ja die Fingernägel noch nach dem ausgewiesenen Tod noch weiter, die Haare auch. Der Übergang muss tatsächlich in welcher Weise auch immer, ob schnell, langsam oder schon "überzeitlich" – als ein Prozess verstanden werden. Man darf schon aus diesem Grunde Nahtod-Visionen nicht eins zu eins als eine Offenbarung nehmen. Das sind sie nicht; sie sind noch immer gefiltert; da kommen immer noch eigene Bilder, eigene Glaubenselemente mit hinein, ohne dass deshalb eine echte Berührung mit der Transzendenz geleugnet werden müsste.

Ich fasse zusammen: Sie gehen also durchaus davon aus, dass Nahtod-Erfahrungen ein Hinweis darauf sind, wie das Jenseits beschaffen ist?

Thiede: So würde ich es nicht sagen; dafür sind die kulturellen und individuellen Prägungen noch zu groß. Wenn aber die theologische Grundthese einer unsterblichen Seele, die über den Tod hinaus Kontinuität aufweist, wahr ist, und davon gehe ich theologisch aus, dann ist es logisch, dass Menschen, die an die Grenze des Todes sehr nahe herankommen, vielleicht sogar stundenlang klinisch tot waren, etwas von dieser Kontinuität spüren und erfahren. Natürlich wie gesagt unter dem Vorbehalt irdischer Einflüsse - Gehirn, Kultur und so weiter. Aber es ist wohl nicht alles pure Phantasie oder etwas Ausgedachtes, sondern da mag schon etwas Jenseitiges hereinragen. In der Kontinuität, die sich in aller Diskontinuität des Todes ankündigt, sehe ich theologisch mit dem katholischen Dogma von der Unsterblichkeit der Seele, das übrigens zur Wirkungszeit Martin Luthers formuliert wurde, der seinerseits von der Seelenunsterblichkeit überzeugt war, etwas von der Liebe und Treue Gottes zu uns Geschöpfen aufleuchten, wie sie sich in Jesus Christus offenbart hat.

Ein Mensch in einem Tunnel

Die meisten Menschen, die von Nahtod-Erfahrungen berichten, schildern diese als etwas Positives, Beglückendes. Es gibt aber auch welche, die negative, höllenartige Erlebnisse schildern?

Thiede: Statistisch gesehen enthält ungefähr jedes fünfte Nahtod-Erlebnis negative Elemente, wobei sich mitunter auch Kombinationen ergeben. Es kann also sein, dass jemand ein sehr negatives Erlebnis durchmacht, eine schreckliche Jenseits-Vision hat, das Ganze dann aber übergeht in eine paradiesisch-schöne Vision, wie sie die meisten erfahren.

"Es ist vielleicht kein Zufall, dass die überwiegende Zahl der Nahtod-Erlebnisse sehr positiv gestimmt sind. Viele, die das erleben, wollen gar nicht mehr zurück."

Wie deuten Sie das aus theologischer Sicht?

Thiede: Ich finde, dass gerade auch höllenartige Erfahrungen – etwa Eindrücke einer absoluten Einsamkeit oder auch Visionen von gequälten Seelen - durchaus nachdenklich stimmen; sie erinnern daran, dass schon bei Jesus mitunter Höllendrohungen in seiner Verkündigung vorkamen. Gleichwohl sympathisiere ich als Theologe mit der zuversichtlichen Lehre von der Allversöhnung. Dabei gilt es zu beachten, dass von Vertretern der Allversöhnungslehre Gottes Gericht keineswegs bestritten wird. Allversöhnung heißt in dem Zusammenhang nur, dass ganz am Ende alles gut wird. Mich überzeugt in Abwägung aller Argumente die Hoffnung auf eine universal von Gott herrlich durchgesetzte Versöhnung aller. Und es ist vielleicht insofern kein Zufall, dass die überwiegende Zahl der Nahtod-Erlebnisse sehr positiv gestimmt sind. Viele, die das erleben, wollen gar nicht mehr zurück. Und insofern sind negative Visionen, wenn sie denn vorkommen, für mich Ausdruck dafür, dass es sehr wohl ein Gericht geben wird – aber nicht mit schier unendlichen Folgen. Die in Jesus Christus erkennbar gewordene Liebe Gottes und seine vollkommene Gerechtigkeit lassen mich hier recht positiv denken – im Sinne der tiefen Aussage des Apostels Paulus: "Gott hat alle in den Ungehorsam hinein gebannt, auf dass er sich aller erbarme" (Römer 11,32).

Hatten Sie denn selbst schon eine Nahtod-Erfahrung?

Thiede: Nein. Ich bin ein vergleichender Forscher auf diesem Gebiet wie viele andere Autoren auch. Das ist vielleicht sogar eine bessere Voraussetzung für die Forschungsarbeit. Denn eigenes Erleben könnte einen in eine bestimmte, subjektive Richtung drängen. Als Wissenschaftler kann ich einfach neugierig auf das Thema schauen, ohne durch eigenes Erleben irgendwie voreingenommen zu sein. Und das ist genau mein Zugang: Ich war und bin einfach als Mensch, Theologe und Publizist neugierig.