Es könnte so leicht sein. Einfach anhalten, absteigen, Wintermantel durchschneiden, ihn dem bettelnden Mann vor dem Supermarkt geben, sich über sein strahlendes Gesicht freuen, weiterfahren.

Leider ist das erste Problem schonmal, dass wir so selten ein scharfes Schwert dabei haben beim Einkaufen, um den Mantel durchzuschneiden.

Das zweite Problem: Wie sollen wir den überhaupt durchschneiden? In der Mitte so längs? Sodass der Mann den rechten Arm reinstecken kann und ich dann den linken? Also ehrlich, dann bringt mir der Mantel auch nichts mehr und ich kann ihm gleich den ganzen Mantel geben.

Meine Schwierigkeiten mit dem Heiligen Martin

Ich frage mich das sowieso bei dieser Geschichte:

Warum um Himmels willen hat der Heilige Martin, der damals noch kein Heiliger war, sondern ein Soldat, dem Bettler nicht den ganzen Mantel gegeben?

Aber so ist die Geschichte natürlich nicht gemeint: Die Legende vom Heiligen Martin soll zeigen, dass wir von unserem Wohlstand ganz einfach etwas abgeben können. Indem wir - ganz einfach - teilen mit denen, die nicht so viel haben wie wir.

Auf das Teilen kommt es an

Eine große moralische Erzählung für das, was Eltern ihren Kindern mitgeben wollen. Was aber vielleicht auf dem Spielplatz funktioniert - "Schau mal, der Emil hätte auch gern einen Keks, gibst Du ihm einen aus Deiner Dose?", ist nur leider keine Anleitung dafür, wie man ein guter Mensch sein kann.

Zu viele strukturelle Ungerechtigkeiten, zu viele Menschen, die vor der Tafel-Ausgabe Schlange stehen, zu wenig bezahlbare Drei-Zimmer-Wohnungen, zu hohe Inflation. Zu viele Familien, die von den Privilegien liebevoller Großeltern, voller Bücherregale, einer gut bezahlten Teilzeitstelle und einer harmonischen Beziehung nur träumen können.

Es ist verdammt schwierig, ein guter Mensch zu sein.

Aber in diesem Moment, wenn der Martin von seinem hohen Ross steigt und seinen Mantel teilt, dann ist alles leichter. Und wenn dann noch die Laternen in der Dunkelheit leuchten und die Kinder singen - dann ist wirklich alles gut: lauter kleine Lichter und lauter kleine gute Taten, aber sie machen die Welt heller und besser!

Es fehlt etwas

Und daran ist ja erstmal auch nichts falsch. Aber ich finde: Es fehlt etwas. Es ist leicht, eine Kerze gegen die Dunkelheit anzuzünden. Es ist leicht, dem Mann auf dem Boden vor dem Supermarkt eine Breze zu schenken.

Und es ist richtig schwer, in dieser Welt nichts falsch zu machen: Was kann ich für den Frieden sein, wenn es Leid auf allen Seiten gibt? Wie soll denn bitte dem Antisemitismus entgegentreten? Wie geht Solidarität, wie geht echte Hilfe? Vielleicht lassen es die meisten Menschen deshalb lieber ganz. Es ist doch sowieso alles irgendwie nicht genug und nicht richtig.

Die Angst vor noch mehr Mental Load

Bei den Eltern auf dem Laternenumzug zu St. Martin spüre ich noch etwas: Die Angst vor dem Mehr. Vor mehr Belastung, mehr Anstrengung, mehr Zeitdruck. Wenn doch eigentlich grade Laterne basteln, Winterstiefel besorgen, den zweiten Handschuh finden und den Adventskalender füllen dran ist.

Der sogenannte Mental Load, die unendliche Liste an Dingen, die Eltern heute im Kopf haben, reißt alle Energie und alle Kraft an sich. Wenn man dann beim Laterne-Laufen an Sankt Martin die glücklichen Kinder sieht und wie schön die Laternen leuchten - dann setzt endlich so etwas wie Entlastung ein.

Und eine innere Erleichterung: Ja, so einfach kann es sein. Einfach die Welt zu Hause irgendwie in Ordnung halten und das muss doch reichen. Aber ich frage mich: Ist das wirklich die einzige Möglichkeit, unsere Kinder richtig auf diese komplexe Welt vorzubereiten? Indem wir sagen, dass Teilen wichtig ist? Indem wir uns auf unsere eigenen vier Wände mit den Lichterketten konzentrieren?

Die Herausforderungen des Alltags 

Natürlich müssen nicht alle Eltern Aktivist*innen für Frieden und Gerechtigkeit werden, aber im Moment sind viele von uns dann eben doch eher Aktivistinnen für die kreativsten Adventskalender, schneiden mit Hingabe Wichteltürchen aus uns backen brav drei Sorten Plätzchen am ersten Advent - natürlich mit den Kindern - und sitzen drei Tage vor Weihnachten erschöpft neben einem Geschenke- und Geschirrberg und könnten anfangen zu weinen vor lauter Überforderung.

Der Versuch, gute Eltern zu sein, alles richtig zu machen, ist verdammt anstrengend und es ist verständlich, dass viele Eltern die Grenze für das, wofür sie sich verantwortlich fühlen, immer enger um sich herum ziehen. Aber diese komplizierte, harte und oft wunderschöne Welt, auf die wir unsere Kinder bestmöglich vorbereiten soll, die braucht nicht nur eine geborgene Kindheit, sondern auch Kinder, die wissen, was auf dieser Welt passiert.

Eine Frage von Prioritäten

Was wäre also, wenn wir uns nur dieses Jahr für andere Prioritäten entscheiden würden: Statt stundenlang durch den Drogeriemarkt zu irren für Badeschaum und Knusperriegel, kaufen wir den Adventskalender für 1,99 Euro beim Discounter. Oder für ein bisschen mehr Geld den mit Fair-Trade Schokolade.

Mit der gesparten Zeit lesen wir jeden Sonntag ein Kapitel aus dem Buch "Als Hitler das rosa Kaninchen stahl" vor. Oder schauen zusammen Kindernachrichten. Den Plätzchenteig machen wir dann ohne die Kinder, das geht ungefähr dreimal so schnell und der Boden bleibt sogar sauber.

Beim Ausstechen und Verzieren überlegen wir zusammen, wer gerade wirklich ein paar Plätzchen brauchen könnte und packen kleine Tütchen, die wir danach verschenken. Dazu braucht man wieder Kraft und Zeit, aber vielleicht haben wir die jetzt sogar. Und vielleicht reicht das jetzt sogar schon an "guten Taten", die trotzdem ein bisschen mehr sind als die Geschichte vom geteilten Mantel.

Martin und das Schwert

Denn auch die Martins-Erzählung endet an dieser Stelle nicht, sondern fängt da erst richtig an: In der Nacht nach der Begegnung mit dem Bettler hatte der junge Soldat Martin einen verstörenden Traum: Er sah Jesus, der den zweiten Teil seines Mantels trug, genauso wie es im Matthäus-Evangelium zu lesen ist: "Ich war nackt, aber ihr habt mich bekleidet. (…) Was ihr getan habt einem von diesen meinen geringsten Brüdern, das habt ihr mir getan."

Vielleicht gab es diesen Traum wirklich, vielleicht gehört er auch zu den Legenden, die sich um den späteren Bischof Martin von Tours ranken. Aber fest steht: Sein Traum hat Martin nicht mehr losgelassen. Er hat sein Schwert abgelegt, für immer. Auch wenn es genau dieses Schwert war, mit dem er seinen Mantel geteilt hat. Es war vielleicht seine einzige Möglichkeit, ein guter Mensch zu sein: Seine Macht, sein scharfes Schwert zu entfremden.

Der Martinstag ist ein guter Tag, um Laternen anzuzünden. Um zu teilen. Um Martinsgänse zu essen. Um kalte Füße zu kriegen. Aber vor allem ist er ein guter Tag, um an das scharfe Schwert zu denken, das wir in den Händen halten: Die Möglichkeit, etwas zu tun, was gut ist. Etwas zu verändern. Zusammen mit den Menschen, die wir auf diese verrückte, komplizierte, harte und gleichzeitig so wunderbare Welt vorbereiten wollen.

Jeden Tag wieder das Schwert sinken lassen und stattdessen mit beiden Händen Liebe geben.

Ja, es ist schwer, nichts falsch zu machen. In den öffentlichen Debatten, in der Erziehung, im Mensch-sein. Aber vielleicht müssen wir es riskieren, auch mal etwas falsch zu machen. Und dafür ein paar Dinge richtig machen. Zusammen.

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