Schwimmen lernen

Ein Freibad im Sommer. Kinder rennen über die Wiese, ältere Damen liegen auf ihren Liegestühlen und genießen die Sonne und ich paddel wie ein Hund unsicher im flachen Wasser herum. Hundsdapper so hat mein Vater immer dazu gesagt, ich war sehr lange Nichtschwimmer. Und ich habe mich echt schwer getan, überhaupt Schwimmen zu lernen. Ich habe dem Wasser einfach nicht getraut. Mein Papa hat mir wirklich oft gezeigt, wie es trägt und wie ich mich darin sicher bewegen kann, ohne unterzugehen, aber sobald ich den Boden nicht mehr spüren oder sehen konnte, ist mir die Kehle eng geworden, das Atmen fiel mir schwer und an Schwimmen war nicht mehr zu denken.

Erst der helle Boden eines sonnigen Swimmingpools im Urlaub hat mir genug Vertrauen geschenkt. Und so hab ich dann doch noch Schwimmen gelernt. Die Angst vor dem unbekannten tiefen Wasser aber hat mich nie ganz verlassen. Manchmal kann ich sie abschalten, kann Abstand zu meiner Angst nehmen und mutig darauf los schwimmen, aber wenn ich nicht achtgebe, hat sie mich schnell wieder am Wickel.Und dann blickt die dunkle Tiefe zu mir herauf, als wollte sie sagen: Du weißt ja nicht, was ich  vor dir verborgen halte, welche Pflanzen, welche Fische. Und jederzeit könnten sie nach Deinen Füßen greifen, könnten dich festhalten, dich nach unten ziehen – oder sie könnten an deinen Zehen knabbern, nur neugierig – oder gar hungrig?
Wenn das passiert, schwimme ich schnell ans Ufer, wo der helle Kies mich sicher empfängt. Mit noch zitterndem Atem, nur scheinbar selbstsicher, strebe ich dem Badehandtuch zu, um mich dort vom Schrecken zu erholen.

Sie werden jetzt vielleicht lachen, aber diese oder ähnliche Gedanken kenne ich wirklich; und wie ich neulich gelesen habe, teilen viele Menschen diese Angst mit mir. Furcht vor dem tiefen, dunklen Wasser – Thalassophobie – was für ein Wort.
Diese Angst vor dem dunklen Wasser ist im Menschen wohl tief verwurzelt. In der Antike galt das Wasser als widergöttliche Chaosmacht, als Dämon, der Tod und Verderben bringt.

Den Jüngern Jesu geht es sicher auch nicht anders mit ihrem kleinen Meer. Zwar sind sie Fischer und mit dem See Genezareth vertraut, mit dessen Tiefen und Eigenheiten. Und doch haben sie ganz sicher auch Angst. Besonders vor den Winden, die abends von den Höhen im Westen herabfallen und den See blitzschnell in eine tosende Wasserhölle verwandeln können. Aber es hilft ja nichts, das Fischen gehört zum Leben. Und wenn sie nicht um den halben See laufen wollen, müssen sie eben über das Wasser.

Die Jünger auf dem See

Einmal nach einem langen anstrengenden Tag…., so erzählt es die Bibel,  schickt Jesus die Jünger voraus. Er kümmert sich noch um die verbliebenen Leute, die aus den umliegenden Dörfern zu ihnen geströmt waren und lässt sie dann auch bald gehen. Jesus bleibt alleine zurück. Er steigt auf einen Berg. Es wird Abend. Dort oben bleibt er dann bis zum frühen Morgen – vermutlich betet er.

Die Jünger inzwischen erleben eine echte Schreckens-Nacht. Die berüchtigten Fallwinde stehen dem Boot entgegen, die Wellen türmen sich gefährlich hoch auf und ein Fortkommen ist kaum möglich. Das Boot ist gar nicht klein, eine ganze Mannschaft hat darauf Platz, aber die Wellen schlagen über den Bootsrand, alle sind längst nass bis auf die Knochen und die Nacht nimmt kein Ende. Wo ist oben und unten? Wo müssen wir eigentlich hin und wann wird das endlich aufhören?

Nur mit Mühe können die Jünger das Boot unter Kontrolle halten. Sie kämpfen gegen Wind und die Wellen und gegen ihre Angst. Und dann kurz vor dem Morgengrauen - Auf dem Wasser – mitten in den Wellen sehen sie eine helle menschliche Gestalt. Sie läuft auf sie zu. Ein Gespenst!" "Ein Geist!". "Jetzt ist es ganz aus mit uns, wir sind verloren." Der Geist aber sagt: "Fürchtet Euch nicht! Und die Jünger auf dem Meer erkennen nach dem ersten Schrecken: Das ist Jesus! Und aus Petrus bricht es heraus:

Herr, bist du es, so befiehl mir, zu dir zu kommen auf dem Wasser.
Und Jesus sprach: Komm her! 
Und Petrus stieg aus dem Boot und ging auf dem Wasser und kam auf Jesus zu.

Dieser Petrus!  Was will er da? Hat ihm die Nacht auf dem See nicht gereicht?  Will er beweisen, wie toll er als Jünger ist? Klar, Petrus ist in der Gruppe der Jünger sicher einer der hellsten Köpfe. Er gilt zwar als aufbrausend, impulsiv und energisch. Aber trotzdem hat er wohl besonders gut verstanden, worum es Jesus geht. Jetzt aber übertreibt er es! Oder ist das, was wir da sehen, echter Glaube? Echtes Vertrauen?

Petrus geht unter

Jesus ruft ihn zu sich. Komm her. Und wirklich! Petrus legt das Ruder ab, nähert sich dem Bootsrand und steigt in die Wellen. Mit dem Blick auf Jesus bewegt er sich mit großer Sicherheit. Ein Schritt, noch einer. Die anderen Jünger – mit offenem Mund stehen  sie im Boot und müssen einfach hinschauen.

Als Petrus aber den starken Wind sah, erschrak er und begann zu sinken und schrie: Herr, rette mich! 
Jesus aber streckte sogleich die Hand aus und ergriff ihn und sprach zu ihm: 
Du Kleingläubiger, warum hast du gezweifelt? 

Oh, Petrus! Dir fühle ich mich nahe. Mit dir verbinde ich mich insgeheim, wenn ich den Text lese.  Du, einfach nur ein Schüler und Freund von Jesus, kannst tatsächlich einige Schritte auf den Wellen gehen! Als einen Schüler von Jesus verstehe ich mich auch, und deswegen frage ich mich: Wie ist das dann so mit dem über das Wasser laufen? Kann ich das? Kann ich das lernen? 
Auf der anderen Seite finde ich es fast schon befreiend, zuzusehen, wie Petrus dann doch absäuft. Und ruft: Herr, rette mich!
Da ist keine Schadenfreude bei mir, sondern fast so was wie Erleichterung: Der Meisterschüler Petrus kann es also auch nicht! Na, das macht es mir leichter, innerlich mit ihm verbunden zu bleiben. Das setzt den Maßstab nicht ganz so hoch und ich fühle mich nicht so klein.

Aber ich habe Mitleid mit Petrus. Wie mutig er aus dem Boot steigt, wie sicher er auf den Wellen geht, wie fest er seinen Blick auf Jesus richtet. Und dann? Diese Blamage. Und da sagt Jesus: Du Kleingläubiger!? Die anderen sind gar nicht gegangen, haben nichts gewagt, und es waren ja schon ein paar Schritte, ist das denn nichts? Ist die Reaktion von Jesus wirklich so vorwurfsvoll und streng, wie wir ihn gehört haben, oder doch ganz anders:

Du Kleingläubiger, warum hast du gezweifelt?

Ja, so… Jetzt finde ich, klingt der Satz richtig. Petrus braucht ja keine Rüge, keine extra Entmutigung! Er braucht Nachsicht und eine Aufmunterung: Na, du kannst es doch! Was ist los? Was los ist? Siehst du nicht den starken Wind ... und die Wahnsinns-Wellen, das tiefe Wasser, ich geh gleich unter… Und alle sehen mir dabei zu! Ich bin über meinen Mut erschrocken und schäme mich wie ich jetzt hier so erbärmlich herumplantsche! "Doch, doch", könnte Jesus sagen, "das seh‘ ich".  Und dann schaut er Petrus an, reicht ihm die Hand, zieht in aus dem Wasser und gemeinsam gehen sie zum Boot.

Auf den Wellen gehen

Auf den Wellen gehen. Wie Petrus. Diese Sicherheit, wenigstens für ein paar Schritte. Gelingt mir das auch? Und wie ist das mit dem Untergehen, und mit dem Um-Hilfe-Rufen? Ich habe einen Sohn, er ist schon volljährig, aber manchmal erziehen wir ihn doch noch – ein bisschen. Und wenn ich zurückdenke, merke ich, das war eigentlich ganz schön verrückt. Da kommt dieser neue Mensch und plötzlich bist Du Vater. Und du sollst dieses kleine Wesen groß ziehen. Es gibt keine Gebrauchsanweisung – die wäre ja auch Unsinn, denn jedes Kind ist völlig anders. Es gibt keine Sicherheiten – wer weiß denn schon, was sein wird?

Und auch wenn man als Vater oder Mutter das Beste gibt, kann doch so unendlich viel passieren: Krankheiten tauchen auf. Es geschieht ein schlimmer Unfall. Eine unsinnige Mutprobe, blanker Leichtsinn – all das droht dem Kind von unbekannter Seite. Sogar wenn ich versuche, all das von dem Kind fernzuhalten, mache ich es falsch, denn dann sperre ich es ja ein!  Es gibt keine Garantie, keine Sicherheit. Im Gegenteil. Fehler sind garantiert.

Dazu kommt dann noch die Unsicherheit, ob das, was ich heute in dieses Kind hinein-erziehe, auch den erhofften – natürlich positiven Effekt hat. Wird mein Kind freundlich zu anderen oder wird es auf Schwächeren rumhacken? Wird es Freunde und Freundinnen finden – und werden es solche sein, dich ich "richtig" finde? Wird mein Kind etwas für sich entdecken, mit dem es sich gut und gerne beschäftigt, wie Sport oder Musik oder vielleicht auch die Sterne am Nachthimmel?

Wird es seelisch stabil sein – seelisch – oder gebeutelt von Ängsten oder von unerklärlicher Traurigkeit? Wie wird es mit Enttäuschungen umgehen? So viele Fragen, so viele Gefahren, so vieles, was schief gehen kann.  Und auf keine dieser unzähligen Fragen krieg ich eine Antwort. Ich erziehe und erziehe, jeden Tag, jedes Jahr. Ohne festen Grund und ohne ein festes Ziel. 
Es geht immer nur diesen einen Schritt weiter. Kinder erziehen – Ja, das ist wie auf dem Wasser laufen…

Ich arbeite als Lehrer. Jeden Tag sehe ich vier, fünf Klassen, hundert Kinder oder mehr, denen ich was übers Leben beibringen soll. Jeden Schultag finde ich für jede Stunde ein Thema, von dem ich hoffe, dass es meine Schüler und Schülerinnen interessiert. Ich helfe ihnen, sich eine eigene Meinung zu bilden und ich bemühe mich, in ihnen Gutes zu wecken. Mitgefühl, ein sicheres Gewissen und wenn sie wollen, einen Draht zu Gott. Das meiste – da mache ich mir nichts vor – wird sowieso bald vergessen. Aber ich weiß ja auch nicht, welcher Teil meines Unterrichts tatsächlich eine Wirkung entfaltet. Manchmal bin ich überrascht, wenn mir Schüler nach dem Abitur sagen, welche von den unzähligen Stunden oder sogar welcher Satz, den ich irgendwann gesagt habe, wirklich bedeutsam für sie geworden ist. Lehrer und Lehrerinnen gehen auf den Wellen. Jeden Tag. Die Ergebnisse ihrer Arbeit sind ja nun nicht die Noten, sondern das, was ihr Unterricht in den kommenden Jahren bewirkt. Da sind die Schülerinnen und Schüler meist schon weit weg und denken längst nicht mehr an Schule.

Mir fallen auch die Pflegerinnen und Pfleger in den Krankenhäusern ein - auch sie wissen nie, wohin ihre Mühe führen wird. Nur eines ist sicher, dass nach diesem Patienten bald der nächste das Bett belegen wird. So mancher Patient – manche Patientin – stirbt – war die Begleitung dann umsonst? Diese Patientin schimpft dauernd, jener raucht heimlich auf dem Balkon – trotz der nur knapp überstandenen Herz-OP. Diese ist freundlich, jener stets traurig. Und jeden Tag neue Gesichter, neue Entscheidungen, jeden Tag Abschiede. Pflegerinnen und Pfleger. Auch sie gehen jeden Tag über das Wasser.

Auf den Wasser-Wellen gehen ist also wirklich alltäglich.  Weil ich ins Offene muss und das geht nur, wenn ich vertraue. Ohne dieses ganz grundlegende Vertrauen könnte kein einziger Mensch morgens auch nur einen Schritt aus dem Bett machen. Raus aufs Wasser. Rein in den Alltag. Ich staune, wie viele Menschen dieses Wunder täglich zustande bringen.

Da fällt mir ein: Kennen Sie den Film "Findet Nemo"? Da gibt es dieses kleine blaue Fischchen. Sie heißt Dorie. Und sie hat ein großes Handicap – oder ist es ein Vorteil? – jedenfalls. Dorie ist vergesslich. Sehr vergesslich. Als kleine blaue Fischfrau begegnet sie eines Tages dem verzweifelten Fisch-Vater Marlin, dem sein einziges Kind – Nemo – abhanden gekommen ist. Der Vater ist verrückt vor Sorge und ständig malt er sich aus, was seinem kleinen Sohn Nemo alles passieren könnte. Dorie aber hat eine Art Mantra, ein kleines Lied, das sie immer wieder vor sich hin singt. Marlin beklagt sich bald über den Ohrwurm. Das Lied geht so: "Einfach schwimmen, einfach schwimmen, einfach schwimmen, schwimmen, schwimmen." Dories mantraartiger Gesang ist mir hängen geblieben. Manchmal sage ich ihn mir innerlich vor, wenn ich merke, dass ich mir zu viele Sorgen mache. 

Versinken

Ah, ja, wenn‘s doch so leicht wär‘! Denn: Petrus versinkt doch. Er sieht die Wellen, den Sturm, die Gefahr, er denkt darüber nach, was er eigentlich hier tut, verliert seine Sicherheit. Hilfe, ich ertrinke! Und ist es nicht verrückt, dass wir in unserer Gesellschaft eigentlich davon ausgehen, dass jede und jeder immer schafft, was wir von ihm oder ihr erwarten? Was ist denn mit denen, die drohen unterzugehen?

Da kenne ich Leute, die kümmern sich um ihre Kinder, außerdem haben sie einen Beruf, manche zahlen noch an einem Haus oder finanzieren schon die Ausbildung für die Älteste. Vater und Mutter sind längst in Rente und jenseits der 80, brauchen Hilfe im Alltag oder sogar Pflege. Wenn so jemand dann sagt, "Ich weiß gar nicht, wie ich das alles schaffen soll", dann ist das nicht nur so dahin gesagt, dann ist das schon wirklich hart. Auf den Wellen gehen... na ja...

Oder Jugendliche im Alter meines Sohnes. Die Schule wird immer anspruchsvoller, dabei gehen die Interessen längst schon eigene Wege. Ständige Prüfungen verlangen regelmäßiges Lernen und dann wäre es ja eigentlich auch schön, wenn man am Wochenende mal Zeit hätte, Freunde zu treffen. Ja, dazu kommt dann dieser Mist mit der Pandemie. Für die Zukunft sieht es mau aus. Die dauernden Meldungen, dass das Klimaziel von 1,5 Grad eigentlich nicht mehr zu erreichen ist, machen Angst. Und ganz nebenbei ist gerade das große Artensterben, wo man auch noch nicht weiß, wie katastrophal sich das am Ende auswirkt. Lustig geht anders. Ich wundere mich nicht, dass gerade in diesem Alter viele Leute eigentlich dringend Hilfe bräuchten. Die Wartezeiten für einen Platz beim Psychologen sind seit Corona noch mal viel länger geworden. Schon vorher waren es sechs Monate Wartezeit für einen Termin.

Einfach schwimmen? Einfach so auf den Wellen laufen? Ich könnte noch viele Beispiele nennen. Ich glaube, Sie wissen, was ich meine.  All diese Menschen sind durch Petrus in guter Gesellschaft. Untergehen ist eben auch alltäglich. Untergehen heißt eben auch Mensch sein.

Als Petrus aber den starken Wind sah, erschrak er und begann zu sinken und schrie: 
Herr, rette mich! 
Jesus aber streckte sogleich die Hand aus und ergriff ihn.

So ganz versinkt Petrus also doch noch nicht in der Tiefe. Er erkennt: da ist jemand, der ist für mich da. Herr, rette mich. 
In der Geschichte ist das einfach nur ein Ruf nach Hilfe. Aber da steckt mehr drin:  Wenn ich den Text ein paar Mal lese, verwandeln sich diese knappen Worte und werden zum Gebet, zum Ohrwurm, zum Mantra: Herr rette mich. Manchmal wäre ich schon froh, wenn mir diese Worte in den Sinn kämen. Wenn ich drohe zu versinken. Herr rette mich! Mit diesem Satz im Herzen könnte ich mich der Liebe öffnen, die da stets auf mich wartet und von der ich so gerne predige. Aber manchmal fehlen mir einfach die Worte. So ganz und gar. Die Wellen ersticken alles, sogar meinen Hilferuf. Es kann alle Liebe der Welt auf mich warten. So lange ich aber nur auf die Wellen, den Wind und die Gefahren starre, kann ich diese Liebe nicht empfangen. Also, Petrus, mein Freund und Bruder, lehre mich nur dies zu sagen:  Herr rette mich.

Jesus aber streckte sogleich die Hand aus und ergriff ihn. 

So einfach geht das, und doch so schwer. Rette mich.

 

Die Evangelische Morgenfeier

"Eine halbe Stunde zum Atemholen, Nachdenken und Besinnen" - der Radiosender Bayern 1 spielt die Evangelische Morgenfeier für seine Hörerinnen und Hörer immer sonntags von 10.32 bis 11.00 Uhr. Dabei haben Pfarrerinnen und Pfarrer aus ganz Bayern das Wort. "Es geht um persönliche Erfahrungen mit dem Glauben, die Dinge des Lebens - um Gott und die Welt."

Sonntagsblatt.de veröffentlicht die Evangelische Morgenfeier im Wortlaut jeden Sonntagvormittag an dieser Stelle.