Was einem Kind mitgegeben wird...

Was aus diesem Jungen mal werden soll, ist sonnenklar. Es steht von Geburt an fest: König wird er werden, König über ein Weltreich, das von Kanada über Indien bis nach Neuseeland reicht – ein Gemeinwesen zum Wohle aller. Rund zwei Milliarden Menschen weltweit gehören dazu. Seine Mutter nennt es "ihre Familie" und er wird dermaleinst ihr Oberhaupt sein...

Sein Name ist Charles Philip Arthur George und er wartet nun schon 68 Jahre darauf, König zu werden, König des Vereinigten Königreichs Großbritannien und Nordirland sowie in Personalunion von 15 weiteren, als Commonwealth bezeichneten souveränen Staaten. Seit seinem vierten Lebensjahr ist offiziell klar, dass er Thronfolger ist. Aber wer konnte ahnen, dass die Queen so lange durchhält!

Ich liebe königlichen Klatsch und Tratsch! Die GALA und die Bunte sind gute Quellen für die neuesten Gerüchte und Skandale. Wenn ich aber genauer nachdenke, was mich da so interessiert, dann sind es die Familiengeschichten: Wer hat welche Rolle? Wie arg drücken die Verpflichtungen? Gibt’s da auch Trost und Liebe?

Und da ist die Serie "The Crown" natürlich genau das richtige für mich. In mittlerweile vier Staffeln wird die Geschichte der britischen Krone erzählt, von der Krönung der Queen 1952 bis heute, auch die Kindheit und Jugend von Charles, ihrem ältesten Sohn. Da ist bestimmt einiges dramatisiert, aber ich kann mir schon vorstellen, wie der Junge von Anfang an geformt wurde als Prinz, Thronfolger, König, der er mal werden wird und dass er sich unterzuordnen hat: der Pflicht, der Aufgabe, der Bürde. Man sieht ihn in der Serie als zurückhaltendes, musisch begabtes Kind, vom Vater in das unerbittliche Internat gesteckt, weit weg von den Eltern. Man sieht Charles als jungen Mann, immer auf der Suche nach Anerkennung und Liebe, gerade auch von der Mutter, die nicht so recht zu verstehen scheint: What exactly is the problem?

Und ich vor dem Fernseher bin fassungslos: wie kann sie das nicht spüren? Und wo ist überhaupt der Vater!? Was ist das für eine Umgebung, in der dieses Kind aufwachsen muss! Die Erwartungen ‚der Krone’ passen so gar nicht zu dem Menschen Charles.

In meiner Familie wird die Geschichte erzählt, dass bei meiner Geburt mein Cousin in die Schule geschickt wurde, um meinen Bruder Thomas die frohe Botschaft mitzuteilen: dei Schwesterla is da! Mein Bruder durfte vorzeitig aus dem Reli-Unterricht nach Hause. Die Freude war wohl deswegen so groß, weil ich eine unverhoffte Nachzüglerin bin und weil es bisher nur Jungs gab, zwei Brüder und fünf Cousins. Und weil ich ein Mädchen war, gab es entsprechende Erwartungen: Mädchen spielen mit Puppen und tragen Röcke. Ich aber fand die Legobausteine und die abgetragenen T-Shirts meiner Brüder viel schicker.

"Die Aufgabe der Umgebung ist es nicht, das Kind zu formen, sondern ihm zu erlauben, sich zu offenbaren." Maria Montessori hat das gesagt. Die Worte der italienischen Pädagogin berühren mich sehr. Raum und Zeit und Muße haben, um sich zu offenbaren...das würde heißen: ich zeige, was in mir steckt, einfach so, unvoreingenommen, spielerisch und neugierig wie ein Kind. Ich folge meinem inneren Bedürfnis, sagen wir mal, tausend Origami-Schnecken zu falten. Oder ich nehme endlich Gesangsunterricht, weil ich meine Stimme finden will.

Um das wirklich zu tun – sich zu zeigen, braucht es freien Raum und ich muss mich sicher fühlen. Denn das ist eine sensible Sache, für kleine und für große Menschen. "Jedes Kind braucht einen Engel, der es schützt und der es hält."

Eine Vater-Sohn-Geschichte?

Eine der größten Freuden ist es, wenn ein Mensch geboren wird. Ein eigenes Kind, das Kind von Freunden, ein Geschwister, ein Enkel. Wo ein Kind geboren wird, da ist Hoffnung, da geht es weiter. Da ist Zukunft.

Dass die alten Eheleute Zacharias und Elisabeth nochmal ein Kind bekommen, damit hat wirklich keiner mehr gerechnet. Als ein Engel dem betagten Priester das ankündigt, verstummt er, so mächtig ist die Botschaft. Jetzt, neun Monate später ist es soweit: der Sohn wird geboren. Alle sind entzückt, sogar die Nachbarn, die vorher vielleicht noch abgelästert haben. Aber wenn ein Kind geboren wird, freuen sich eben alle. Wie soll er denn heißen, der Knabe? Wie der Vater, sagen die Verwandten und die ganze Nachbarschaft. Die Mutter sieht das anders: Sie hat erlebt, was Gnade heißt, darum soll der Sohn Johannes heißen: "Gott ist gnädig". Der Vater ist derselben Meinung. Der grade geborene Sohn ist ein eigenständiges Wesen, keine Verlängerung elterlicher Wünsche oder Vorstellungen. Der Erwachsene wird später "Johannes, der Täufer" genannt werden, weil er Menschen um sich schart, die durch die Taufe für sich einen neuen Lebensweg sehen.

Namen sind wichtig. Damals wie heute sind sie mit Bedeutung aufgeladen. Prinz Charles heißt nach früheren Königen, nach seinem Vater Philip und nach seinem Großvater George. It’s a tradition! Charles selbst hat vor ein paar Jahren gesagt, er möchte nicht als Charles III. den Thron besteigen, eher als George VI. Die bisherigen Könige mit Namen Charles sind keine besonders positiven Vorbilder: der eine wurde enthauptet, der andere hatte Mätressen und uneheliche Kinder, aber keinen legitimen Nachfolger.

Namen haben Bedeutung, über den Wortsinn hinaus. Ein Kind Johannes zu nennen heißt, in ihm die lebendig gewordene Gestalt göttlicher Gnade zu sehen. Wenn der Vater Zacharias dem Sohn einen eigenen Namen gibt, dann bedeutet das: Nicht ich habe im Leben des Johannes das Sagen, sondern Gott.

Und genau in diesem Moment der Namensgebung bekommt Zacharias seine Stimme zurück. Da fängt er an zu singen: Einen Lobgesang, ein Wiegenlied für seinen neugeborenen Sohn. Es erzählt davon, dass und wie die Eltern dieses ersehnte Kind unmittelbar nach der Geburt aus der Hand geben und an den zurück, dem sie es verdanken: Gott.

Der Herr sei gepriesen, Israels Gott!

Er hat sein Volk besucht und es befreit:

Ins Haus seines Knechts David

hat er den Retter gesandt,

der stark wie ein Widderhorn ist.

Verkündet hat er von Urzeiten an,

durch den heiligen Mund des Propheten:

Ich werde euch retten von euren Feinden.

Ich will euch bewahren,

wenn ihr Hass nach euch greift.

Ich werde mich eurer Väter erbarmen

und den heiligen Bund und den Schwur nicht vergessen,

den ich Abraham schwor,

eurem Vater:

euch aus der Hand der Feinde zu retten,

damit ihr mir dient, ohne Furcht,

fromm und gerecht, ein Leben lang,

vor meinem Angesicht.

 

Du aber, Kind, sollst "Prophet des Höchsten" genannt sein,

weil du dem Herrn vorausgehen wirst,

um ihm die Wege zu ebnen

und seinem Volk zu verkünden:

Es gibt Rettung,

die Schuld wird vergeben,

Gott ist barmherzig.

Sein Licht, aufgehend wie die Sonne am Himmel,

hat uns berührt.

Es leuchtet auch denen,

die in der Dunkelheit sind

und im Schatten des Todes

und lenkt unsere Schritte zum Frieden. (Lukas 1, 68-79 Übersetzung von Walter Jens)

Der Text ist eine Offenbarung! Weil er so poetisch ist und zärtlich, weil er so kunstvoll aufgebaut ist: sieben Worte nähern sich der Mitte: Volk, besuchen, Retter, Hand, berührt – und entfernen sie sich dann wieder. In der Mitte des Textes in den Worten "Schwur" und "nicht vergessen" verstecken sich die Namen der Eltern: "Gott erinnert sich" - Zacharias und "Mein Gott hat geschworen" - Elisabeth. Namen haben Bedeutung. Vielleicht hatten die beiden Alten schon resigniert und gedacht: Gott hat uns schon abgeschrieben. Im Gegenteil, Gott sieht sie und hält sich an sein Versprechen. Gott ist gnädig und schenkt ein Kind, Johannes.

"Was soll aus diesem Kindlein werden?" fragen sich alle bei der Geburt. Diese Frage richtet sich ja an jeden Menschen. Von keinem Menschen kann man sagen, wer er oder sie ist und was er oder sie werden wird. Jede und jeder ist ein Geheimnis, oft auch sich selbst und manchmal braucht man ein Leben lang, sich auf die Spur zu kommen -  vorausgesetzt man hat den Mut, das was man ist, wirklich zu leben. Zacharias scheint das von seinem Neugeborenen geahnt zu haben und versucht in seinem Wiegenlied eine Antwort. "Prophet des Höchsten" soll er genannt werden; Propheten waren berühmte, aber oft einsame und ausgestoßene Menschen, ohne eine andere Freundschaft als die mit Gott. "Dem Herrn vorausgehen" soll er; wir wissen, dass er ihm auch im Tod vorausgehen wird, auf ähnlich grausame Weise, nicht am Kreuz, sondern durch das Schwert.

Und dennoch: es ist kein trauriges Lied, es ist kraftvoll und visionär! Denn es erzählt davon, dass es einen Wegbereiter und einen Wegbeschreiter geben wird, es erzählt von Schuld, die nicht mehr drücken soll und von Rettung. Es singt von der adventlichen Hoffnung, dass Gott die Widersprüche, das Feindselige und Zerstörerische in der menschlichen Seele überwinden wird – indem er sie berührt. Indem er mich herausführt aus dem Dunkel meiner Verzweiflung und Verlorenheit.

Aber das wird nicht Johannes erfüllen, sondern ein anderes Kind.

Von der Geburt Jesu wird schon im nächsten Kapitel des Lukasevangeliums erzählt. Die Mütter Maria und Elisabeth sind Cousinen und Jesus und Johannes schon vorgeburtlich verbandelt. Johannes hüpft in Elisabeths Bauch, als die ebenfalls schwangere Maria zu Besuch kommt. Später lässt sich Jesus von ihm taufen und alle hören die Stimme vom Himmel: Du bist mein geliebter Sohn, an dir habe ich Wohlgefallen! (Mk 1,11)

Was für ein Vaterlob: Mein geliebtes Kind, Du gefällst mir gut… Danach sehnen sich Söhne und Töchter: Geliebt zu werden und anerkannt für das, was sie sind.

Ich halte das für so was wie die heilige Aufgabe von Müttern und Vätern:

Ein Kind nicht formen nach dem eigenen Willen, sondern es sich offenbaren lassen mit allem, was in ihm verborgen liegt und ans Licht will. Ein Kind nicht als sein Eigentum, als eigenes Werk betrachten, sondern als ein Geschenk, ein Geheimnis, das mir zuweilen auch fremd bleibt.

Wiegenlieder

Balulalow, ein Wiegenlied für "young Jesus sweet": Jesus, mach deine Wiege in meinem Herzen zurecht und ich will dich schaukeln und dich niemals verlassen. Die Knie meines Herzens werde ich vor dir beugen und dir mein Balulalow singen.

Zärtlich, fremd, geheimnisvoll klingt das schottische Wiegenlied aus dem 16. Jahrhundert – wegen der altmodischen Sprache und wegen der knarrigen Stimme von Sting, dem britischen Sänger und sechsfachen Vater. Vielleicht hat er es auch mal für eines seiner Kinder gesungen. Oder: ihm ist es gesungen worden! Dass der Sohn eines Milchmanns, der als Lehrer, Bauarbeiter und Busfahrer gearbeitet hat, einmal ein so erfolgreicher Sänger und Komponist werden würde, war vielleicht auch für ihn selbst eine Offenbarung. Ein längerer Weg auf jeden Fall und offensichtlich nicht in die Wiege gelegt.

Wenn ich so über den Johannes nachdenke, dem auch so ein schönes Wiegenlied gesungen wurde, in dem ja schon viel über seinen Lebensweg gesagt wird; wenn ich weiterdenke, was ich noch so von ihm weiß, nämlich dass er gern Kamelhaar getragen und Heuschrecken gegessen hat, ein Einzelgänger und Gottsucher war, der Schimpftiraden losgelassen hat und der keine Angst hatte, die Heuchelei und Schamlosigkeit des König anzuprangern, wenn ich mir den so vor Augen führe, dann sehe ich ein Kind, ein durch und durch verletzbares Kind, das auch als Erwachsener sensibel und offen geblieben ist und all die alltäglichen Grausamkeiten in sich reingelassen hat und sich berühren hat lassen. Ich glaube, der Johannes hatte kein dickes Fell, das man sich ja angeblich zulegen soll in der Erwachsenenwelt.

Unter seinem Kamelhaarmantel war er ganz dünnhäutig, da bin ich mir sicher. Und dann hat er mal gekeift und mal sich zurückgezogen. So wie es uns auch grad geht in dieser kalten Corona-Zeit. Ich jedenfalls bin grad sehr dünnhäutig, all die Beschränkungen, Einschränkungen bedrücken mich, lassen mich schimpfen – und gleichzeitig bin ich vernünftig und vorsichtig und weiß: das ist alles richtig so!

Wir dürfen jetzt in den Gottesdiensten wieder nicht mehr singen. Sicher auch richtig und wir werden uns dran halten. Aber mir blutet das Herz: kein "Vom Himmel hoch, da komm ich her", kein "O du fröhliche"! Was einen berührt und nahe geht, das fehlt im Moment am meisten. Gut, wenn ich offen und sensibel bin, dann spüre ich den Schmerz und die Trauer und weiß: ich bin noch kein harter Klotz!

Ein besonderer König mit einem besonderen Königreich offenbart sich uns im Advent. Ein Kind. Sein Wegbereiter: ein Kind. Johannes und Jesus, Prophet des Höchsten und Sohn des Höchsten.

Sein Königreich ist ein Gemeinwesen zum Wohle aller, ein commonwealth, herzlich willkommen sind die im Dunkeln und die im Schatten. Allein will er das nicht auf den Weg bringen, wir sind seine Wegbegleiter und –begleiterinnen, Gott lenkt unsere Schritte zum Frieden. Auch zum Frieden mit den Eltern, den Geschwistern, die so  nah dran sind und manchmal so fern, die mich so gut kennen und gar nichts wissen, die mich mein Leben lang begleiten, mich formen und es mir möglich machen, mich zu zeigen.

Zacharias Wiegenlied singt davon, wie Gott uns alle berühren will, wie die ersten Sonnenstrahlen nach der dunklen Nacht, wie die zärtliche Hand der Mutter, die über die Wange streicht: Ich bin da, hab keine Angst. Dein Lebensweg ist nicht in Stein gemeißelt, du bist die Gestalterin! Was willst du der Welt von dir offenbaren?

Kind Gottes in der Hutschachtel

"Kind Gottes in der Hutschachtel!" Das hat meine Mutter manchmal zu mir gesagt. Ich weiß bis heute nicht ganz genau, was es bedeutet. Aber es klingt immer noch witzig und auch irgendwie geheimnisvoll. Dass es ein besonderes Kind ist, das ist klar, denn es ist ein Kind Gottes. Aber: ein Kind Gottes in einer Hutschachtel wie in einer Zauberkiste – was könnte da noch alles zum Vorschein kommen?!

Ich denke, für viele Menschen bleibt der Reichtum verborgen, der sich noch so in der eigenen Hutschachtel verbirgt. Weil man in eine bestimmte Richtung geformt wurde: ich muss brav sein und still, ich hab doch eine Verpflichtung, das wird von mir erwartet. Glaubenssätze, die man als Kind verinnerlicht hat und die als Erwachsene weiter wirken. Manchmal hilft der Schmerz, sich neu zu entdecken. Manchmal hilft es, einem Gefühl oder dem Instinkt nachzugehen und etwas auszuprobieren. Einfach so, unvoreingenommen, spielerisch und neugierig wie ein Kind. Immer noch unterwegs.

"Kinder sind Gäste, die nach dem Weg fragen." Wieder Maria Montessori. Väter, Lehrerinnen, Paten sind gefragt. Zu Gästen ist man freundlich und hilfsbereit, man erklärt den Weg, erzählt von den eigenen Erfahrungen, gehen müssen sie ihn selber – vielleicht später oder gar nicht oder sie suchen sich einen eigenen. Ein Gast hat volle Freiheit. Ich bleibe gerne da, wo ich angehört und angesehen bin, wo ich angenommen werde als die, die ich bin und auch die, die ich sein möchte. Und wo man mich auch wieder gehen lässt. Kind Gottes in der Hutschachtel eben…Ich gehöre mir selbst und ich gehöre Gott.

Kind Gottes in der Hutschachtel, in der Krippe oder auf einem Schiff: ein adventliches Marienlied besingt überbordend seine teure Fracht: "Es kommt ein Schiff geladen bis an sein höchsten Bord." Man kann an die hochschwangere Maria denken. Oder an jede werdende Mutter, die sich freut an dem kleinen Passagier und ihn gespannt erwartet. Alles ist da, was das Kind braucht: Liebe, Geist, Worte und ein Anker, um nicht verloren zu gehen.

Was mich besonders berührt an dem Lied: es wird nicht verschwiegen, dass es Leid und Sterben gibt in unser aller Leben. Das wissen Eltern, dass sie ihr Kind nicht vor allem bewahren können. Wer das Kind umfangen und küssen will, muss auch mit ihm leiden. Wer sich an die Liebe dahingibt, wird auch mit Schmerzen rechnen müssen, wer sich offenbart, wird ungläubige Blicke ernten.

Was soll aus diesem Kindlein werden? Was immer auch aus mir werden wird: Gott segelt mit!

 

Evangelische Morgenfeier vom 13.12.2020 mit Pfarrerin Sandra Zeidler, Nürnberg, Thema: Was soll aus dem Kind bloß werden? (Lukas, (1,67-79)