Verluste bleiben keinem Menschen erspart. Manchmal sind es nur Kleinigkeiten: ein Schmuckstück, an dem das Herz gehangen hat; oder der Geldbeutel mit samt allen Ausweisen. Über solche Verluste kann man gut hinweg kommen.

Aber dann gibt es da noch die anderen Verluste – die dir richtig wehtun: eine Freundschaft geht in die Brüche. Du bist beim Arzt zur Untersuchung und er sagt: "Ich habe keine guten Nachrichten für Sie!" Die Oma erkrankt an Demenz  und zieht sich immer mehr in ihre eigene Welt zurück. Ein Mensch stirbt, der ein wichtiger Teil deines Lebens war. Du musst dein Land verlassen, weil Krieg tobt, weil du nicht ins System passt, weil du keine Zukunft für dich und deine Kinder siehst.

Da geht eine Welt geht unter. Meine Welt bricht zusammen und es zieht mir den Boden unter den Füßen weg. Wo finde ich in solchen Momenten Halt? Wenn mein Leben aus den Fugen gerät – was rettet mir dann meine Hoffnung, oder gar meinen Glauben? Hilft es mir wirklich weiter, wenn ich auf den sehe, der am Kreuz starb? Wieso soll ich mir sein Ende vor Augen halten, wenn ich selbst am Ende bin? Wieso soll ich mich unters Kreuz zu einem "Verlierer" stellen?

Ja, der Karfreitag erzählt uns die Geschichte eines Verlierers. Jesus wird nach und nach alles genommen. Er verliert seine Freunde. Judas verrät ihn, Petrus verleugnet ihn. Alle anderen machen sich aus dem Staub. Bei den Verhören, in den Händen der Soldaten des Pilatus verliert Jesus seine Unversehrtheit, seine Wirkmächtigkeit. Er wird bespuckt, geschlagen, verhöhnt. Und am Ende stirbt Jesus am Kreuz und verliert sein Leben.

Und seine Jünger? Auch sie gehören zu den Verlierern: Sie müssen mitansehen, wie ihr Hoffnungsträger vor ihren Augen verhaftet wird. So viele Pläne hatten sie mit ihm; hatten sich ausgemalt, was noch kommt – für sie selbst, für diese Welt. Doch das scheint nun aus und vorbei zu sein. Aus. Vorbei. Verloren. Die Jünger wenden sich ab. Auch auf unseren Passionsbildern in St. Martin sind sie danach nicht mehr zu sehen.

Wer könnte ihre Reaktion nicht verstehen? Beim Anblick von Leid gehen wir oft lieber auf Distanz. Das Thema "Verlieren" halten wir uns gerne vom Leib - aber damit schaffen wir es ja nicht aus der Welt.

Es ist schwer, sich dieser Verlustgeschichte aus der Bibel auszusetzen, sie immer wieder zu hören. Der gekreuzigte Jesus ist kein strahlender Held, kein glorreicher Sieger. Daran ändern auch seine letzten Worte nichts: "Es ist vollbracht!" Was für ein Satz! Als ob hier einer eine schwere Aufgabe souverän und erfolgreich gemeistert hat!  Aber mal ehrlich: sehen so tatsächlich Sieger aus?

Da gehe ich doch lieber auf Distanz und halte mich an andere Bilder von Jesus, die eher mein Herz gewinnen: Jesus als Hirte, der ein Lamm auf den Schultern nach Hause trägt: Jesus, der Kranke heilt und den Niedergeschlagenen hilft, sich aufzurichten. Oder der wortgewaltige Prediger, der Menschen für sich gewinnt.

Doch verpasse ich so nicht die Chance, mich selbst im Spiegel der Passionsgeschichte wiederzuerkennen? Sie gibt Einblick in Jesu Ängste, in seine Verzweiflung; sie zeigt mir seine Tränen. Jesu Mutter Maria und sein Jünger Johannes weichen dem nicht aus. Auf dem großen Passionsbild vor dem Chorraum ist das zu sehen. Ich kann mich in Gedanken dazu malen - unter Jesu Kreuz. Dort kann ich mich auch meinen Ängsten, meiner Verzweiflung, meinen Tränen stellen. Ich muss nichts überspielen; muss nicht mehr so tun als ob; muss nicht taff und kraftvoll mit meinen Verlusterfahrungen umgehen – so wie das oft erwartet wird in der heutigen Zeit: Gut dastehen, sich von der besten Seite zeigen, sich optimal verkaufen.

Unter Jesu Kreuz kann das endlich einmal aufhören. Das Leben ist kein Lifestyle-Hochglanzprospekt, in dem es nur strahlende Gewinnertypen gibt.

In dieser Wahrhaftigkeit liegt für mich eine Stärke des Glaubens: dass er nicht über die Brüchigkeit des Lebens hinwegtäuscht. Dass er zugibt, dass auch der schlimmste, bitterste, sinnloseste Verlust möglich ist. Dass er sich dem bitteren Ende stellt und Raum gibt für Klage und Schmerz. Das entlastet – und ja, das tröstet. Darum heißt es am Karfreitag: "Ich will hier bei dir stehen... von dir will ich nicht gehen..."

"Manchmal träume ich davon, dass ich nicht immer nur blühen muss ..." heißt es in einem Gedicht. Dieser Satz spricht mir am Karfreitag aus dem Herzen. Vor dem Gekreuzigten muss ich nicht immer nur blühen und glänzen. Vor dem Kreuz hat mein Scheitern, haben meine Grenzen und meine Schwächen ihren Raum. Jesus wühlt nicht in meinen Wunden; er fühlt mit mir; er solidarisiert sich mit mir. Er spottet nicht: "Schaut euch diesen Schwächling an!" sondern sagt: "Komm her zu mir mit deinen Mühen, mit deinen Belastungen!"

Hier ändert sich meine Wahrnehmung – nicht nur mich selbst kann ich anders sehen und verstehen, auch meine Mitmenschen nehme ich neu wahr. Erfolg oder Misserfolg, Reichtum oder Armut, Ansehen oder Bedeutungslosigkeit, Gesundheit oder Krankheit bestimmen nicht den Wert eines Menschen. Das Kreuz Jesu macht mich solidarisch mit den Verlierern in dieser Welt, mit denen, die Verluste erleiden.

Am Karfreitag lernen wir zu sagen: Ich will hier bei dir stehen – nicht nur bei, dir, Jesus, sondern auch bei der sterbenden Mutter, dem trauernden Ehemann, dem schwer kranken Kind; ich will stehen bei den Menschen, die jemanden brauchen, der ihre Verluste mitträgt. Die Kraft, Verluste zu tragen, kommt von dem, der selbst gelitten hat und gestorben ist; kommt von dem, der selbst sein Kreuz zu tragen hatte. Doch seine Geschichte endet nicht mit dem Kreuz.

Der Karfreitag wäre nicht auszuhalten, wenn wir den Ostermorgen nicht im Hintergrund erahnen könnten. Auch wenn wir von der Osterhoffnung längst nicht so ein klares Bild vor Augen wie vom Schrecken des Karfreitags. Das wird uns hier in St. Martin deutlich vor Augen geführt. Die Fresken vom Leidensweg Jesu bis hin zur Kreuzabnahme stehen uns klar vor Augen. Viele schmerzhafte und schmerzvolle Details können wir da sehen.

Natürlich haben unsere Vorfahren vor fast 500 Jahren auch Ostern dargestellt. Leider ist von diesem Gemälde an der südlichen Chorwand kaum mehr etwas übrig. Vor ein paar hundert Jahren wurde das Auferstehungsbild zugunsten einer Empore abgeschlagen. Jetzt sieht man nur noch die Soldaten, die das Grab bewachen und die Füße des Auferstandenen - mehr nicht.

Wenn ein Mensch stirbt, bleibt eine Lücke. Niemand kann ihn ersetzen. Der Verlust bleibt. Aber in dieser Lücke gewinnt die Hoffnung Raum, dass der Verstorbene in ein neues Leben gerufen wird – auch wenn wir nicht wissen oder sehen, wie dieses Leben aussieht. Genauso wenig wie wir den Auferstandenen auf diesem Fresko sehen können. Wir leben im Glauben und nicht im Schauen. Trotzdem hätte ich manchmal gute Lust, diese Wand neu zu füllen; nicht mit einem Bild oder einer Rekonstruktion der alten Vorlage.

Nein, die Worte "Es ist vollbracht!" – die würde ich hier gerne stehen sehen. Denn zu dieser Haltung will mir das Kreuz Jesu letztlich verhelfen: dass ich mein eigenes "Es ist vollbracht!" sprechen kann; dass ich meinen Frieden mache mit einem Leben, zu dem das Verlieren und verloren sein dazu gehört, dass aber auch von der Hoffnung getragen ist, dass da einer ist, der mich hält in Zeit und Ewigkeit. AMEN.

Evangelische Morgenfeier vom 19.04.2019 mit Dekan Christoph Schieder, Memmingen, Thema: Schmerzhafte Verluste.