Der Beauftragte für Sekten- und Weltanschauungsfragen der bayerischen Landeskirche, Matthias Pöhlmann, beobachtet, dass Esoterik teilweise als trojanisches Pferd für rechtsextremes Denken genutzt wird. In seinem neuen Buch "Rechte Esoterik" (erschienen am 12. Oktober 2021) zeigt er, wie vermeintlich harmlose Gruppen aus der Esoterik-Szene mit der "Querdenker"-Bewegung, Reichsbürgern und Rechtsextremen vernetzt sind und deren Ideologie bis in die Mitte der Gesellschaft verbreiten. Im Sonntagsblatt-Gespräch mit erklärt er, was die Esoteriker mit Rechtsextremen verbindet, welche Gefahren von ihnen ausgehen und wie die Gesellschaft damit umgehen sollte.

Herr Pöhlmann, die Mutter eines Freundes interessiert sich sehr für Naturheilkunde. Nach der Lektüre Ihres Buches "Rechte Esoterik" habe ich mich gefragt, ob ich mir Sorgen machen muss. Was meinen Sie?

Matthias Pöhlmann: Nicht jeder, der sich für alternative Heilverfahren und Naturheilkunde interessiert, droht nach rechts abzurutschen. Mir ist es wichtig zu differenzieren. Der Ausgangspunkt für mein Buch war die Beobachtung, dass bei den Querdenker-Demos plötzlich Impfgegner, Esoteriker und auch Rechtsextreme und Reichsbürger gemeinsam demonstriert haben. Und da war für mich die Kernfrage: Gibt es da Überlappungen und was vereint sie?

Man hat Esoteriker*innen lange als eher links wahrgenommen. Nach der Lektüre Ihres Buches habe ich den Eindruck, dass das eigentlich immer ein Missverständnis war. Oder täusche ich mich da?

Pöhlmann: Die heutige Esoterik ist keine geschlossene Bewegung. Man kann eher von einer Szene mit offenen Zugangsbedingungen sprechen. Es ist letztendlich oft eine sehr stark individualisierte Spiritualität. Das heißt, man greift sich eben aus verschiedenen Angeboten das heraus, was für einen selbst passt oder stimmig ist. Es ist ein konsumorientierter Religionsvollzug. Gleichzeitig beobachte ich in den letzten Jahren, dass Verbindungslinien in die rechte Szene gibt. Esoterik wird als trojanisches Pferd für rechtsextremes Denken genutzt.

"In der Esoterik-Literatur finden sich Bücher, die auf den ersten Blick schöne Märchen erzählen. Aber in den Büchern selbst werden knallhart antisemitische, antidemokratische und rassistische Überzeugungen gestreut."

Wie läuft so etwas konkret ab?

Pöhlmann: Zum Beispiel über den Buchmarkt. In der Esoterik-Literatur finden sich Bücher, die auf den ersten Blick schöne Märchen erzählen. Ich denke da beispielsweise an die Anastasia-Bücher. Aber in den Büchern selbst werden dann knallhart antisemitische, antidemokratische und auch rassistische Überzeugungen gestreut.

Gibt es auch linke Esoterik? Und ist die genauso gefährlich?

Pöhlmann: Im Bereich der linken Szene überwiegt eher Religions- und Spiritualitätskritik. Aber es gibt natürlich auch linksorientierte Esoteriker. Da sehen wir aber nicht die Vernetzungen, die wir bei rechtsorientierten beobachten.

Auffällig ist, dass bei Esoteriker*innen oft ein Bezug zu nordischer und indischer Mythologie hergestellt wird. Die beiden scheinen in der Szene echte Renner zu sein. Gibt es dafür einen bestimmten Grund?

Pöhlmann: Die greifen damit auf angeblich ursprüngliche, archaische Traditionen zurück, die nicht durch den jüdisch-christlichen Kulturkreis vorbelastet sind, weil das als zu dogmatisch gilt. Und gerade nordische Mythen proklamieren oft einen starken Typ, der im Gegensatz zur – wie das oft von Rechtsextremen gesagt wird – verweichlichten Wüstenreligion steht.

"Esoterik postuliert, es gebe ein absolutes Wissen, das sich nur Erleuchteten, nur sensiblen, sensitiven Menschen erschließt."

Heißt das umgekehrt, Christ*innen sind nicht so sehr gefährdet?

Pöhlmann: Der Kernpunkt ist eine wissenschaftsskeptische oder wissenschaftskritische Haltung. Esoterik postuliert, es gebe ein absolutes Wissen, das sich nur Erleuchteten, nur sensiblen, sensitiven Menschen erschließt. Und damit grenzt man sich von der Rationalität der Wissenschaften genauso ab wie von traditionellen Formen von Religion, wie etwa Kirchen.

Springen Esoteriker*innen also in eine Lücke, die die klassischen Kirchen offen lassen?

Pöhlmann: Ich würde das nicht nur als ein unaufgelösten Schuldschein der Kirche ansehen, sondern ich glaube, das ist eine gesamtgesellschaftliche Entwicklung. Wenn wir uns die Tendenzen in unserer Gesellschaft anschauen, sind das die klassischen drei Stichworte: Pluralisierung, Säkularisierung und Individualisierung. Und davon sind viele Lebensbereiche betroffen. Man geht nicht mehr in den Sportvereinen, wo man sich auf längere Zeit bindet, sondern besucht einzelne Yoga-Kurse. Genau so handhaben viele es mit ihrem Bedürfnis nach Spiritualität.

"Moderne Esoterik und Verschwörungstheorien bilden eine Art Zwillingspaar."

Sie beobachten die Esoterik-Szene schon länger. Die Corona-Pandemie hat in Sachen Sichtbarkeit und Reichweite einen regelrechten Katalysator-Effekt gehabt, oder?

Pöhlmann: Ja. Wenn man vor etlichen Jahren noch über das Thema Verschwörungstheorien gesprochen hat, dann war das für manche wie ein Kuriositätenkabinett. Und ich merke jetzt, dass die Menschen im Freundes- und Bekanntenkreis viel stärker damit konfrontiert werden. Viele sind dann sehr ratlos, weil sie jemanden kennen, der wirklich in dieser Verschwörungsgläubigen-Szene abdriftet. Und das sind teilweise Leute, die sich vorher schon für Esoterik interessiert haben. Natürlich nicht alle. Aber moderne Esoterik und diese Verschwörungstheorien bilden eine Art Zwillingspaar. Für manche Menschen erfüllt das auch die Funktion einer Ersatzreligion. Natürlich ist es ein negativer Glaube, weil er sehr stark von Misstrauen geprägt ist, aber letztendlich erfüllt er ersatzreligiöse Funktionen wie Sinnstiftung, Komplexitätsreduktion, Stillen der Sehnsucht nach einfachen Antworten. Und das größte Problem sind die Feindbilder, die damit begründet werden.

Wie kann Kirche dem gezielt entgegenwirken?

Pöhlmann: Diese Herausforderung vollzieht sich auf mehreren Ebenen. Das eine ist sicherlich digitale Bildung. Es sind vor allem Männer ab 50, die solchen Verschwörungserzählungen sehr stark anhängen. Also bräuchte es ein digitales Bildungsprogramm speziell für diese Personengruppe. Das andere ist Ideologiekritik. Es ist wichtig, Einspruch gegen das Besserwissen der Querdenker zu erheben. Und schließlich das Gebiet der Beratung, der Seelsorge. Und da merke ich, dass die Anfragen deutlich zugenommen haben. Solche Verschwörungstheorien spalten letztendlich die Gemeinschaft und die Gesellschaft.

Hände mit dicken Ringen über einer leuchtenden Kugel, von Kerzen umgeben

Kann es sein, dass viele Esoteriker*innen als zu harmlos wahrnehmen und übersehen, dass da oft rechtsextreme und antisemitische Ideologien dahinterstehen?

Pöhlmann: Wahrscheinlich. Es ist das Anliegen meines Buches, die Augen dafür zu öffnen, welche Querfront-Strategien und -Vernetzungen hier laufen. Und da gibt es Protagonistinnen und Protagonisten, die hinter einer nach außen hin harmlos erscheinenden Fassade, mit durchaus positiv besetzten Begriffen wie Frieden oder Pilgern ihr eigenes Süppchen kochen.

Sie sind Sektenbeauftragter der Landeskirche. Kann man die Esoteriker*innen denn mit Sekten vergleichen?

Pöhlmann: Der Begriff Sekte ist natürlich sehr umstritten. Umgangssprachlich wird damit finanzielle und psychische Abhängigkeit unterstellt. Und in der Esoterik-Szene gibt es auch sehr stark vereinnahmende Angebote und Bewegungen. Auch Abhängigkeiten sind in manchen Fällen vorprogrammiert: Dass man den spirituellen Meister, die Meisterin nicht mehr hinterfragt. Die entscheiden dann über Wohl oder Wehe des Menschen, sagen einem beispielsweise: In dir stecken so viele Kräfte und Energien, aber es gibt Menschen auf deinem Weg, die dich in deiner spirituellen Entwicklung blockieren. Trenne dich von der Familie! Besonders schlimm ist es, wenn Kinder davon betroffen sind, die dann zwischen die Fronten geraten.

Stichwort finanzielle Abhängigkeit: Viele Esoteriker*innen scheinen sehr geschäftstüchtig zu sein, oder?

Pöhlmann: Unbedingt. Manche sind nicht nur feinstofflich orientiert. (lacht) Die sprechen dann gerne von einem Energie-Ausgleich: Ich habe dir Energie gegeben, also erwarte ich, dass du mir Energie wieder zurückgibst – und in den meisten Fällen sind es dann nicht nur 50 Cent, die zurückgegeben werden.

"Es ist auffällig, dass Christinnen und Christen in der Querdenker-Bewegung eigentlich überhaupt keine Rolle gespielt haben."

In den USA sehen wir, dass die Evangelikalen in dieser Verschwörungs-Blase eine große Rolle spielen. Ist das in Deutschland auch zu beobachten?

Pöhlmann: Da sehe ich einen großen Unterschied. Bei uns in Deutschland sind die Evangelikalen längst nicht so politisiert wie in den USA. Es ist auffällig, dass Christinnen und Christen in der Querdenker-Bewegung eigentlich überhaupt keine Rolle gespielt haben. Wenn man sich die Untersuchung der Basler Universität dazu anschaut, dann war doch die Affinität zur Esoterik viel, viel größer.

Was kann ich konkret machen, wenn jemand in meinem Bekanntenkreis sich, sagen wir mal, für Naturheilkunde interessiert, und ich im Gespräch plötzlich merke: Okay, da kommen auch ein paar problematische Standpunkte? Soll ich denen dann einfach Ihr Buch geben?

Pöhlmann: (lacht) Das wird sie nicht überzeugen, glaube ich. Wichtig ist es auf alle Fälle, zu versuchen, im Gespräch, im Kontakt zu bleiben. Es ist manchmal sehr mühsam, diese Geduld aufzubringen, vor allem, wenn man es mit Personen zu tun hat, die eine Art missionarischen Eifer entwickeln. Wichtig ist, von vornherein klarzumachen, dass man diese Ansichten nicht teilt, aber dass man Interesse am Gegenüber hat. Oftmals ist es ein Lebensthema, das dahintersteht. Es kann auch ein Weg sein, nach den Quellen zu fragen. Wo hat denn die betreffende Person ihre Informationen her? Sind es glaubwürdige Quellen?

Wenn das ein geschlossenes System ist, ist es schwer, da heranzukommen, das ist ganz klar. Da ist es manchmal notwendig und sinnvoll, rote Linien zu markieren, insbesondere dann, wenn antisemitische, rassistische oder allgemein menschenverachtende Aussagen fallen. Die Angst ist natürlich groß, dass man den lieben Menschen dann verliert oder es zum Kontaktabbruch kommt. Aber manchmal kann auch eine Auszeit sinnvoll sein, damit man selbst mal wieder zu Kräften kommt und dass das Gegenüber vielleicht dann auch nicht mehr die Möglichkeit hat, diese verschwörungsideologischen Thesen zu verbreiten.

Wahrscheinlich kann aber auch genau das Gegenteil eintreten.

Pöhlmann: Genau. Und in jedem Fall ist es sinnvoll, mit einer Beratungsstelle Kontakt aufzunehmen.

" Religion ist eigentlich etwas Positives. Aber es gibt auch Schattenseiten und es ist wichtig, auf diese hinzuweisen und die eigene religiöse Tradition kritisch zu überprüfen."

Verschwörungstheorien haben in den letzten 20 Jahren einen ungeheuren Aufschwung erlebt, vom absoluten Randthema bis tief in die Mitte der Gesellschaft hinein. Wie denken Sie wird sich das in Zukunft weiter entwickeln?

Pöhlmann: Das ist schwer einzuschätzen. Auf der einen Seite wird die Säkularisierung sicher weiter zunehmen, auf der anderen Seite gibt es diejenigen, die sich ganz bewusst religiös entscheiden. Auch die Pluralisierung und Individualisierung wird weitergehen. Das heißt, wir werden es weiterhin mit einer Vielzahl von religiösen Anbietern und Angeboten zu tun haben. Umso wichtiger ist es, darüber nachzudenken, wo die Grenzen der Toleranz sind und wo Religion beginnt, gefährlich zu werden. Religion ist eigentlich etwas Positives. Aber es gibt auch Schattenseiten und es ist wichtig, auch auf diese Schattenseiten hinzuweisen und die eigene religiöse Tradition kritisch zu überprüfen. Das ist wichtig, um eine Religion zeitgemäß zu gestalten, damit man nicht in Fundamentalismus abgleitet.

Rechte Esoterik. Wenn sich alternatives Denken und Extremismus gefährlich vermischen

Matthias Pöhlmann

Sie sind auf den "Querdenken"-Demonstrationen zu finden und überfluten mit ihren Botschaften die sozialen Netzwerke. Sie haben ihre eigenen Kirchen, ihre eigenen Bauernhöfe und ihre eigene "Germanische Neue Medizin". Von der Anastasia-Bewegung bis zu QAnon: Rechte Esoteriker gewinnen immer mehr Zulauf. Nicht nur in Deutschland. Der Weltanschauungsexperte Matthias Pöhlmann, exzellenter Kenner der Szene, nennt die historischen Wurzeln und zeigt: Was auf den ersten Blick als harmlose Spinnerei erscheint, birgt immensen gesellschaftlichen Sprengstoff.

Verlag: Herder

Seitenzahl: 303

ISBN: 978-3451390678

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