Und dann ist es wieder passiert. Einige haben es kommen sehen. Viele wollten es nicht glauben. Krieg. Sowas gab es früher. Wir sind heute weiter. Und doch ist es geschehen. Ist der Mensch so? Kann er nicht anders?
Es ist das Jahr 70 nach Christus, Jerusalem liegt in Trümmern. Zerstört von den übermächtigen Römern. Der Tempel. Die Königsburg. Ein Massaker mit einer Million Toten, heißt es. Jerusalem. Die Ewige. Die Uneinnehmbare. Schon 600 Jahre zuvor war sie von fremden Mächten erobert worden. Aktuell ist sie schon wieder Zankapfel zwischen den Kulturen und Religionen des Nahen Ostens. Oder immer noch.
Ws ist eine alte Frage – wiederholt sich Geschichte?
Es ist eine kritische Zeit, als Jerusalem fällt. Auch für das junge Christentum, das sich noch gar nicht so nennt. Eher sind es Jesusanhänger. Und mitten in dieser Krisenzeit stehen sie vor einer großen Aufgabe. Sie wollen das, was da rund um diesen Jesus von Nazareth passiert ist, in Worte fassen. Für sie geht es um alles in ihrem Glauben. Um Leben und Tod. Aber wie davon reden, sodass auch die verstehen, die nicht dabei waren? Ein paar tun sich hervor. Seitenweise schreiben sie auf, was sie gehört und gelesen haben. Vielleicht sind sie überzeugt, dass ihre kaputte Welt genau diese Worte braucht.
Wir nennen diese Erzähler Evangelisten. Einem von ihnen gibt man irgendwann den Namen Lukas. Seinen echten Namen kennen wir nicht. Wir wissen fast nichts über ihn. Dieser Mensch schreibt seine Jesusgeschichte hinein in eine Trümmerzeit. In eine Zeit, in der Dämme gebrochen sind. Mauern zerstört. Und neue Mauern entstehen. Zwischen den Menschen. Bis heute erinnert die Klagemauer in Jerusalem an rohe Gewalt. Als etwas Grundlegendes zu Bruch gegangen ist. Das Allerheiligste ist Asche. Nur ein Rest ist noch da. Ein klagendes Mauerstück.
Schreiende Steine
Als Lukas sein Evangelium schreibt, ist das bunte Treiben in Jerusalem zur Zeit Jesu Geschichte. Er beschreibt, was nicht mehr ist. Wie Jesus auf dem Esel in die Stadt einzieht. Jubel. Happiness. Aber Lukas kennt die ganze Wahrheit. Über die Ekstase legt sich bei ihm ein Schatten.
So kam Jesus zu der Stelle,
wo der Weg vom Ölberg nach Jerusalem hinabführt.
Da brach die ganze Schar der Jüngerinnen und Jünger
in lauten Jubel aus.
Sie lobten Gott für all die Wunder,
die sie miterlebt hatten.
Sie riefen:
"Gesegnet ist der König, der im Namen des Herrn kommt!
Friede herrscht im Himmel
und Herrlichkeit erfüllt die Himmelshöhe!"
Es waren auch einige Pharisäer unter der Volksmenge.
Die riefen ihm zu: "Lehrer,
bring doch deine Jünger zur Vernunft!"
Jesus antwortete ihnen: "Das sage ich euch:
Wenn sie schweigen, dann werden die Steine schreien!"
Schreien. Im griechischen Urtext steht da: krazein. Krächzen. Wie das Kratzen in der Stimme, bevor sie bricht. Oder auch: Kreischen. Das Wort taucht noch an anderer Stelle auf. Als Jesus am Kreuz hängt. Als er schreit, krächzt, kreischt, im Moment seines Todes. "Jesus schrie abermals laut und verschied."
Auf der anderen Seite: Schweigen. Die Lauten, die Schrillen, die jubeln, die Gott loben, sollen Ruhe geben, fordern einige von Jesus, als er auf dem Esel einzieht. Ich kenne dieses ungute Gefühl, wenn Menschenmassen um mich herum toben und jubeln. Gewinner jubeln. Im Fußball, zum Beispiel. Aber halt auch im Krieg. Im blinden Gehorsam. Es hat schon Gründe, warum wir Deutschen den Ruf haben, verklemmt zu sein. Schmallippig. Ich habe das so richtig verinnerlicht. Ich schüttle widerwillig den Kopf, wenn ich Bilder vom amerikanischen Wahlkampf sehe, von den geifernden Fans. Massen machen mir Angst. Wer soll sich denen im Zweifelsfall entgegenstellen?
Ich bin Ende dreißig. Meine Generation hat deutsche Erinnerungskultur quasi mit der Muttermilch eingeflößt bekommen. Ich habe noch meinen Geschichtsunterricht in der Oberstufe vor Augen. "Jetzt ist doch mal gut mit diesem ewigen schlechten Gewissen der Deutschen." Das ist damals Mehrheitsmeinung in meiner Klasse. Unter Minderjährigen. Ich nehme es schulterzuckend hin. Dabei steht es seit zweitausend Jahren da: Wenn sie schweigen, dann werden die Steine schreien. Was mache ich mit dem Satz? Was macht er mit mir?
Der Eurovision Song Contest und der Sonntag Kantate
Ein paar Jahre, bevor ich zur Welt komme, betritt eine jüdische Frau deutschen Boden. Sie reist aus Israel nach München. 1983. Die Erinnerung an Olympia ’72, an den Tod israelischer Sportler beim Anschlag durch palästinensische Terroristen, muss sehr präsent gewesen sein. Die junge Sängerin Ofra Haza vertritt ihr Land beim Musikwettbewerb Grand Prix Eurovision de la Chanson. Heute heißt er Eurovision Song Contest. Gestern wurde er aus Basel übertragen. Ofra Haza singt ihr Lied damals auf Hebräisch. Es heißt: Chai. Am Leben. Ein Hoffnungslied. Nicht triumphierend. Eher heiter. Und darin trotzig. Schaut mich an, ich bin am Leben.
Das Volk Israel ist am Leben. So singt und lächelt sie es hinaus in die mollig warmen Wohnzimmer der Bundesrepublik. Man muss bei dieser Wohlfühl-Performance schon genau hinhören, um noch die Schreie zu hören. Das Schreien der Steine, die nie aufgehört haben zu schreien. Die Steine in den KZs vor den Toren unserer hübschen Städte. Die Stolpersteine vor deutschen Häusern, die an die ermordeten und vertriebenen jüdischen Menschen erinnern. Sie sollten ein für alle Mal zum Schweigen gebracht werden. Aber Ofra Haza schweigt nicht. Sie singt.
Wenn sie schweigen, dann werden die Steine schreien, sagt Jesus. Ich frage mich: Wer sind "sie"? Wer soll nicht schweigen?
In der Bibel sind "sie" erst mal die jubelnden Jüngerinnen und Jünger am Straßenrand, als Jesus auf dem Esel vorbeizieht. Menschen, die Gottes Geist in sich hineinlassen. Und dann ganz außer sich sind. Fröhliche Menschen. Solche, die mit ihrem Frohsinn niemandem schaden – außer der bleiernen Ruhe, dem Sprechverbot, das manche über alle ausbreiten möchten, die anders auftreten, anders sind als sie selbst. Darum mag ich den Eurovision Song Contest, den ESC.
Weil sich da Menschen begeistern lassen. Sie feiern lustvoll. Sie feiern die Musik und das Leben in seiner ganzen Vielfalt. Manches dort ist nicht nach meinem Geschmack. Es schmeckt mir zum Beispiel nicht, wenn Plüsch und Pop zum Feigenblatt werden, um Menschenrechtsverstöße zu überpudern, wie 2012 beim ESC in Aserbaidschan, wo Demonstranten festgenommen und kritische Journalistinnen an der Arbeit gehindert wurden. Und es ist schon eine Geschmacksfrage, ob es wirklich der Völkerverständigung dient, wenn sich bestimmte Länder bei der Abstimmung Punkte zuschieben – egal, wie gut oder schlecht der Performance war.
Na ja, muss ich wohl durch. Und andere müssen durch, wenn 1998 erstmals eine Trans-Frau den Wettbewerb gewinnt. Oder im letzten Jahr ein Mensch, der sich keinem Geschlecht zuordnet. Wobei, nein. Wir müssen da nicht durch. Ich nicht. Sie auch nicht. Wir können umschalten. Stattdessen ätzt ein Sprecher der Synode der russisch-orthodoxen Kirche 2014 gegen die bärtige Kunstfigur und Wettbewerbssiegerin Conchita Wurst und sieht in ihrem Sieg einen Schritt zur Abkehr von Europas christlicher Identität. Ganz ehrlich: Hätte er doch einfach umgeschaltet.
Wenn sie schweigen, dann werden die Steine schreien, sagt Jesus. Das klingt jetzt sehr groß, aber: Mich hat der Grand Prix aus einem inneren Schweigen herausgeholt. Heute, am Sonntag Cantate, denke ich bewusst zurück an einen Abend, als Musik etwas Wichtiges in mir Gang gesetzt hat.
Februar `98. Ich bin elf. Sehr still, sehr schüchtern, sehr verunsichert. Und dann klopft noch die Pubertät an. Beim Grand Prix werden mir Worte gegeben. Gesungene Worte. Und ich mache sie mir zu eigen.
Mit meiner Clique sitze ich abends vor dem Fernseher. Deutscher Vorentscheid. Ich darf extra länger aufbleiben. In der Schulpause haben wir heimlich die BRAVO durchgeblättert und da haben wir’s erfahren: Der Grand Prix ist nicht mehr oll, er ist jetzt cool. Und das liegt nur an einem Mann: Guildo Horn. Sänger mit Zottelhaaren und 70er-Jahre-Kluft. Und klarer Favorit beim deutschen Wettbewerb. Die Mutter der Schulfreundin, bei der wir das Wohnzimmer belagern, hat uns Nussecken gebacken und Himbeereis in Schüsselchen gefüllt. Das gehört zum Guildo-Horn-Kult. Ein Abend lang Extravaganz. Ich, tagsüber der Schulbub mit Jeans und Polohemd, trage eine mondäne schwarze Schlaghose aus Samt, die meine große Schwester mir geliehen hat. Die Hose ist einen halben Meter zu lang. Aber ich muss ja nicht laufen, nur sitzen. Und Nussecken mit Himbeereis essen. Und jubeln, als unser Star auftritt. "Piep, piep, piep, ich hab dich lieb", singt er. Das alles ist vollkommen sinnlos und gaga. Aber es bringt mich, im Rückblick, mit etwas in Berührung, das für mich bis heute das Leben in all seinen Höhen und Tiefen so liebenswert macht.
Als Teenie war ich zerfressen von Selbstzweifeln. Plötzlich Pickel. Plötzlich diese Unlust, morgens aufzustehen. Wohin mit mir? Warum wieder eine 5 in Mathe? Leistungen abliefern. Korrigiert werden. Und wieder von vorne. Bleibt das jetzt für immer so?
Nach Guildo Horns Auftritt kommen noch zwei andere auf die Bühne. Er am Keyboard, sie am Mikro. Die Band Rosenstolz kennt damals kaum jemand außerhalb der Berliner Schwulenszene. Ihr Lied trifft mich mitten ins Herz. So schmachtend, so triefend. Alles ein bisschen drüber, auch der blutrote Lippenstift der Sängerin und ihr Outfit aus rotem Samt. Ich höre, sehe, schmecke, fühle an diesem Abend, was ich noch alles sein kann.
Da sind dieser Nonsens-Barbe und ein pathetisches Duo aus Berlin und ich denke: Aha, so kann man also auch leben. In bester Weise hat mich der Grand Prix aufmüpfig werden lassen. Wild. Das Leben als Bouquet. Und ich bin die Rose. Ich darf wachsen, bunt sein, stolz, lustvoll, leidenschaftlich. Diese 5 in Mathe definiert mich nicht. Ich bin mehr als das, was ich leiste. Das Leben, mein Leben, hat seinen Zweck in sich selbst. Diese kleine Erkenntnis aus dem Fernsehabend im Jahr ’98 hat mich durch manche düsteren, mutlosen Phasen meiner Jugend getragen.
Wenn Gott Sinn ins Leben "küsst"
Heute bin ich Pfarrer und Seelsorger. Immer wieder lassen Menschen mich in ihr Innerstes schauen. Mitten hinein in etwas, das mit jahrzehntelangem Schweigen überdeckt war. Nicht selten liegen da drinnen Steine. Vom ewigen Runterschlucken. Wie versteinerte, nicht geweinte Tränen liegen sie manchen im Magen. Oft brauchen diese Menschen einfach ein offenes Ohr. Tröstende Worte. Aber manchmal merke ich: Da braucht jemand ein bisschen Gaga. Ein bisschen: Ketten sprengen. Und die Steine im Magen auch. Sich Blödsinn erlauben. Eine innere Party, die Feier ihres Lebens. Nicht schweigen. Laut sein. Meine Erfahrung zeigt: Das geht in jedem Alter. Und es ist paradox: Gerade auf das Aufdrehen kann eine tiefe Ruhe und Gelassenheit folgen.
"Als ich eines Tages dachte, dass ich verloren bin.
Begraben und verloschen, küsstest du mir Sinn.
In mein verstaubtes Leben, in meiner Seele Eis.
Und ich begann zu glauben: Ein Feuersturm wär‘ heiß."
So besingen Rosenstolz eine verloschene Liebe. Und so besinge ich Gott, meine lodernde Sehnsucht. Immer wieder küsst Gott mir Sinn in mein Leben, wenn ich meine, es geht nicht weiter. So wie damals, am Grand-Prix-Abend. Für diese Erfahrungen bin ich sehr dankbar. Manchmal nenne ich Gott: Herzensschöner. So heißt dieses Lied, das mich seit dem Vorentscheid 1998 begleitet. Seit 27 Jahren. Wie Gott. Daran glaube ich fest.
Wenn ich das Lied jetzt höre, dann denke ich besonders an die Rosenstolz-Sängerin AnNa R. Sie ist vor wenigen Wochen im Alter von 55 Jahren viel zu früh verstorben, was mich sehr traurig macht. Danke, AnNa R., für Herzensschöner.
Einander zumuten
Wenn sie schweigen, dann werden die Steine schreien. Hat Jesus was gegen Schweigen? Manchmal liebe ich das Schweigen. Meditative Stille. Wenn es ruhig wird in mir drinnen. Dieses Schweigen kann Jesus nicht gemeint haben. Ich glaube, er meint das Schweigen aus Mutlosigkeit. Das erdrückende, aufgezwungene Schweigen. Gegen den eigenen Willen. Aber bitte: Die Pseudo-Debatte, ob man dieses oder jenes überhaupt noch sagen darf, ist mir da zu plump. Klar darf man. Ich erlebe Menschen, die behaupten, dass man manches in unserer Gesellschaft nicht mehr sagen dürfe, als ziemlich mitteilungsfreudig. Kann so schlimm also nicht sein.
Viel spannender finde ich die Frage: Was liegt dazwischen? Zwischen dem bleiernen Schweigen auf der einen Seite. Und den schreienden Steinen auf der anderen Seite, die uns manchmal im Magen liegen. Ich glaube, zwischen Schreien und Schweigen ist ein Raum. Ein Resonanzraum. Vielleicht ist es wie im Chor. Da stehen nicht fünfzig Leute nebeneinander und jeder singt sein Lied. Ganz für sich, wie in einer luftdichten Kapsel. Es ist ein Zusammenspiel. Ein Überlappen, Ergänzen, Reiben, Erweitern. Und das, was rauskommt, ist mehr als die Summe seiner Teile. Leider komme ich mir oft vor wie in so einem Kapselchor.
Lauter Menschen, die den Mund auf und zu machen. Aber die einzigen, die ihnen zuhören, sind sie selbst. Ich glaube, es hat mit der Vorstellung von Freiheit zu tun, die gerade populär ist. Nach dem Prinzip: "Die Freiheit des Einzelnen endet da, wo die Freiheit des anderen beginnt." Sicher ein richtiger Satz. Meine Sorge ist nur, dass er heute der Trennung mehr dient als der Verständigung. Jeder schön für sich, Vorgarten neben Vorgarten und dazwischen ein hoher, blickdichter Zaun. Nein, mir reicht das nicht. Ich wünsche mir, dass wir uns einander wieder mehr zumuten. Wie beim Eurovision Song Contest. Wenn Millionen sehr verschiedene Menschen miteinander singen und feiern. Sie setzen sich Zumutungen aus und muten sich zu. Auch musikalisch.
Wenn sie schweigen, dann werden die Steine schreien, sagt Jesus. Nein, bitte nicht schweigen. Bitte mitmischen, mitsingen in diesem Chor namens Gesellschaft. Was bin ich froh, dass Guildo Horn und Rosenstolz sich mir zugemutet haben. Es hat mich aufblühen lassen. Grenzen nicht gewaltsam überschreiten – aber gerne mit gewisser Penetranz die Hand austrecken, hinüberstrecken – wer weiß, wann der Tag kommt, an dem ich sie brauche. Erzählen wir uns unsere Geschichten. Die vom Schwerz, die vom Scheitern. Und die vom Glück. Reden, fragen, singen. Es gibt so viel mehr als Anschweigen und Anschreien. Die zwei sind gerade sehr im Trend. Meinetwegen dürfen sie in die kommunikative Mottenkiste.
Ein Lied kann eine Brücke sein
Ein Lied kann eine Brücke sein, singt Joy Fleming beim ESC 1975. Vielen gilt dieser Song als die Grand-Prix-Hymne schlechthin. Vielleicht, weil er ausdrückt, auf was es ankommt, beim Song Contest und im Leben: Nicht schweigen. Raussingen, was raus will. Und nie die Hoffnung aufgeben, alle miteinander. Wie essenziell das fürs Leben ist, wussten schon Jesus und seine ersten Follower.
Ich weiß nicht, wo Sie gerade sind. Vielleicht sitzen Sie im Auto. Vielleicht bereiten Sie in der Küche das Mittagessen vor. Vielleicht liegen sie noch im Bett oder Sie müssen arbeiten. So vieles trennt uns. Nicht nur räumlich. Auch, was unsere Ansichten betrifft. Unsere Art, durch dieses Leben zu gehen. Ich möchte Sie einladen, dass wir uns für einen Moment verbinden. Dass wir beten. So, wie es viele von uns schon als Kind gelernt haben. Und vielleicht spüren wir es wenigstens ein Gebet lang: Dass wir Menschen zusammengehören unter Gottes weitem Himmel.
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Hm, eigentlich ein guter…
Hm, eigentlich ein guter Text und auch die Würdigung des etwas schrägen, aber weitgehend harmlosen und tatsächlich etwas völkerverbindenden ESC ist stimmig. Aber irgendetwas stimmt nicht: Wenn es eine etablierte Erinnerungskultur, weltoffene und tolerante Musikbewerbe und schöne Kantatesonntage gibt, warum schreien dann die Steine immer noch? Warum macht sich nicht Zufriedenheit sondern Unsicherheit nicht Gemeinschaft sondern Zwist breit? Es stimmt wohl etwas mit dieser Erinnerungskultur so ganz und gar nicht. Schon das Wort ist fragwürdig, denn Erinnerung ist ein biochemischer Vorgang, während Kultur erst durch Erzählung d. h. durch Interaktion entsteht. Auch der ESC hat in gewisser Weise seine Unschuld verloren, wenn man sich an den Spießrutenlauf der israelischen Delegation letztes Jahr und das Verhalten von Publikum und Teilnehmern erinnert. Auch vorher schon wurde z. B. Polina Gagarina für ihr Versöhnungslied brachial ausgebuht stellvertretend für ihr Land. Wie kommt es das die ganze Welt in Spaltung und autoritäre Muster zurückfällt und zwielichtigen Anführern die Zukunft überlässt? Die Erinnerungskultur scheint nicht mehr zu helfen bzw. wird von den einen immer statischer und routinierter zelebriert und von den anderen als Instrument der etablierten Mächtigen bekämpft. Zeit zu vergessen? Eher nicht, denn die Gegenwart ist voll von Referenzen: Putin sieht überall Nazis, die Rechte Islamofaschisten, die linke Neonazis, die Konservativen Umweltnazis, Femnazis oder gar Babycaust - eine seltsam ahistorische Entwertung des Begriffs durch durch Inflation. Die damals Beteiligten sind tot und können nichts mehr klarstellen, sich verteidigen oder anklagen. Die Erinnerung hat etwas formelhaftes: "Nie wieder, Tag der Befreiung, Staatsraison" vs "Denkmahl der Schande, Schlußstrich, Lügenpresse"... Da bleibt bisweilen wenig Raum für Grautöne oder gar neue Entdeckung - die Wertung wird stehts immer gleich von höchster Stelle mitgeliefert oft, obwohl die Fakten gar nicht so eindeutig sind. So ist es zwar korrekt an frühere Nachbarn mit Stolpersteinen zu erinnern, aber die Mehrzahl der Opfer stammt eben nicht aus deutschen Bürgerhäusern sondern polnischen und weißrussischen Ghettos, oft erschossen in Riga oder Vilnius oder unbekannten belorussischen Dörfern und nicht vergast im KZ (was die Sache nicht besser, sondern noch schlimmer macht, denn die Millionen im KZ Getöteten kommen ja noch dazu). In der Gegenwart scheinen alle die Geschichte noch einmal nachspielen zu wollen, indem sie aber natürlich auf der guten Seite stehen wollen: Putin, indem er irgendwelche ukrainischen Bauerndörfer planiert und darin eine Widerauferstehung russischer Größe sieht, Omas gegen Rechts, die geschützt von deutschen Polizisten durch die Städte ziehen um nachher Kaffee zu trinken, Politiker, die Aufrüstung mit Chamberlain rechtfertigen und die Jugend gegen den Faschisten Putin drillen wollen und Pazifisten, die bloß keine militärische Gegenwehr des bösen Westens wollen, damit sie sauber bleiben. Alles etwas absurd und wenig zukunftsweisend genauso wie die ewigen Untergangserzählungen von Rechts wie Links und den Konservativen sowieso. Was wird da der Jugend insbesondere jungen Männern angeboten? Zwangsdienst ja, bitte vorbereiten für den Schützengraben, positives Männer- und Deutschlandbild bloß nicht und Erinnerung bestimmt der Bundespräsi. mit ein paar Funktionären und Begriffen aus der bundesrepublikanischen Mottenkiste. All das läßt eher an emigration (nach Innen oder außen) denken, denn an eine Neuerfindung der alten und nicht mehr änderbaren Geschichte für ein besseres Morgen.
Als Pfarrer und ESC Fan…
Als Pfarrer und ESC Fan musste ich den Artikel natürlich lesen. Am Anfang wusste ich nicht, ob es der richtige Text zu Überschrift ist, oder ob ich mich verscrollt habe.
Eine bunte und berührende Achterbahnfahrt zwischen der Stille des Schweigens und dem fanatischen Jubel der Massen. Dazwischen berührende persönliche Erlebnisse. Am Ende fühle ich mich beschenkt von soviel unterschiedlichen Impulen, Wortgewandheit, Gedankengängen, Fachwissen, Offenheit und dem Aufblick zu Gott. Großes Kirchenkino. Danke Alex Brandl!