Man dürfe Menschen mit dem Wunsch zu Sterben nicht aus grundsätzlichen Überlegungen heraus mit ihrer Situation alleine lassen, betonte Mathias Hartmann, Chef des fünftgrößten evangelischen Sozialunternehmens in Deutschland.

Herr Hartmann, seit Wochen wird über den assistierten Suizid debattiert. Wie nehmen Sie die Diskussion wahr?

Hartmann: In der Debatte wird gerade sehr stark polarisiert - entweder man ist ganz gegen den assistierten Suizid oder ganz dafür.

Meiner Meinung nach ist die Debatte aber komplexer, sie braucht sensible und ausgewogene Positionen.

Gerade wenn sich die Diakonie dieser Diskussion öffnet, kann ihre Position doch nur eine differenzierte sein. Ich bin Diakonie-Präsident Ulrich Lilie, Reiner Anselm und Isolde Karle dankbar für ihren Anstoß.

Sie haben sich explizit an die Seite der drei genannten Theologen gestellt. Weshalb ist ihnen das wichtig?

Hartmann: Diese differenzierte Sichtweise der drei macht doch deutlich, dass es in der Gesellschaft einen Bewusstseinswandel über das Lebensende gegeben hat, dem sich Kirche und Diakonie stellen müssen. Wir haben eine Entwicklung in der Medizin, die Leben auch noch unter extrem schwierigen Bedingungen möglich macht - eine tolle Entwicklung, das bezweifle ich nicht. Das wirft jedoch auch die Frage nach der Selbstbestimmung am Ende des eigenen Lebens auf, die viele nicht aus der Hand geben wollen.

Diakoneo-Chef Hartmann über assistierten Suizid

Sie sagen, ein "Regelangebot" soll der assistierte Suizid bei Diakoneo nicht sein - möglich sein soll er aber schon. Klingt nach "Wasch mir den Pelz, aber mach mich nicht nass"...

Hartmann: Wir werden sicher nicht mit dem assistierten Suizid als eine Art ganz normaler Dienstleistung werben. Das wäre für mich ein "Regelangebot". Ein assistierter Suizid kann immer nur eine ganz individuelle Entscheidung eines Menschen sein. Da braucht es viele Menschen, die beraten und begleiten - und dann wollen wir ausdrücklich nicht ausschließen, dass dies auch in unseren Einrichtungen geschehen kann. Wir wollen diese Menschen, die uns als Diakoneo vertrauen und in unseren Einrichtungen leben, weiter begleiten, auch mit ihrem Sterbenswunsch.

Herr Hartmann, zugespitzt gefragt: Ein Gift-Cocktail im Diakoneo-Seniorenheim, das ist für Sie also denkbar?

Hartmann: Ich kann mir vorstellen, dass in einem Diakoneo-Seniorenheim ein assistierter Suizid zugelassen werden kann - weil das Leben und Sterben vielfältig ist. Der Anstoß von Lilie, Anselm und Karle hat gezeigt, dass solch ein Angebot auch aus christlich-ethischer Perspektive möglich ist. Kirche und Diakonie müssen nach meiner Meinung das Selbstbestimmungsrecht der Menschen in allen Lebensphasen achten. Es bleiben natürlich offene Fragen, die vor allen Dingen der Gesetzgeber jetzt zügig regeln muss: Wer "überprüft" diesen Wunsch? Wer dokumentiert ihn? Wer stellt sich dem Betroffenen helfend zur Seite?

Man hat den Eindruck, dass dieses Thema zu emotional diskutiert wird und eine Annäherung nicht möglich ist. Oder?

Hartmann: Man muss bei diesem Thema schon zulassen, dass Emotionen dabei sind. Jeder hat Angehörige, jeder denkt selbst über seinen Tod nach - dass das ein emotionales Thema ist, steht außer Frage. Wichtig ist nur, dass man nicht polarisiert, sondern dass man eben auch andere begründete Meinungen zulässt. Dass man differenziert diskutiert und gemeinsam eine Lösung sucht.

Jemanden mit der Empörungshaltung "Wie können Sie nur darüber nachdenken" werden Sie so nicht an den Tisch kriegen...

Hartmann: Eine solche Haltung hilft ja keinem weiter, wenn man mal ehrlich ist. Das Bundesverfassungsgericht hat vergangenen Februar nun einmal das bis dahin geltende Verbot organisierter Sterbehilfe gekippt. Sich auf eine Maximalposition zurückzuziehen und alleine eine Debatte über das Thema abzulehnen, hilft weder den Menschen noch ist es aus meiner Sicht theologisch haltbar. Daher finde ich auch die offizielle Haltung der Katholischen Kirche dazu schade.

Lassen Sie uns auf die NS-Vergangenheit der Diakonie blicken. Verbietet die nicht geradezu Ihre Positionierung?

Hartmann: Unsere schuldbeladene Geschichte verbietet keine Positionierung, sie gebietet jedoch eine differenzierte Sichtweise. Wir müssen alles vermeiden, was Menschen unter Druck setzt, einen Suizid tatsächlich ins Auge zu fassen. Wenn Menschen dies aber selbstbestimmt tun - und das muss ganz klar sein -, dann darf von außen keine Beurteilung kommen, ob dieser Wunsch eines Menschen angemessen oder unangemessen ist. Kirche und Diakonie haben hier ganz klar eine Wächterfunktion.

Wie soll das konkret aussehen? Ebnen Sie Sterbehilfe-Organisationen im Einzelfall den Weg in Ihre Einrichtungen?

Hartmann: Zunächst einmal erwarte ich, dass der Bundestag nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts zügig zu einer praktikablen Entscheidung kommt.

Wir brauchen klare Regeln, wie diese Selbstbestimmungsrecht zu prüfen ist, dass Missbrauch ausgeschlossen ist.

Kirche und Diakonie sollten diese staatliche Regelung genau unter die Lupe nehmen, ob sie wirklich einen "Druck von außen" auf die Betroffenen verhindert. Sollte dies gegeben sein, wird es zumindest bei Diakone kein "Schema F" geben, sondern jeweils eine individuelle Begleitung.

Nachgefragt: Sollten Diakoneo-Mitarbeiter den Kontakt zu Sterbehelfern herstellen? Oder sie nur "hineinlassen"?

Hartmann: Unsere Mitarbeiter sollen eine Orientierung erhalten. Aber um es ganz klar zu sagen: Sterbehilfe wird nie eine unserer Dienstleistungen sein - aber wir wollen sie im Einzelfall auch nicht grundsätzlich verhindern. Wir werden Menschen, die in unseren Einrichtungen leben und diesen Wunsch haben, weiter begleiten. Wir werden sie beraten, werden ihnen andere Möglichkeiten und Hilfen für ihre Zukunft aufzeigen. Aber sollte deren Sterbewunsch bestehen bleiben, akzeptieren wir das.

Was ist mit dem Behindertenbereich? Der Jugendhilfe für junge Erwachsene? Gilt Ihre Haltung dort auch?

Hartmann: Einen assistierten Suizid kann es in einer Diakoneo-Einrichtung nur für jene Menschen geben, die ihr Selbstbestimmungsrecht selbst ausüben können. Dies ist zwar grundsätzlich auch bei einer geistigen Behinderung oder psychischen Erkrankung der Fall. Hier ist aber besondere Sorgfalt vonnöten, wenn es zu einem solchen Wunsch kommt.

Was wäre die Alternative zu Ihrer Haltung? Sterbewillige aus Diakoneo-Einrichtungen verweisen?

Hartmann: Nun, diese Frage stellt sich ja bei uns gerade nicht. Aber wenn sie jetzt die klar ablehnende Haltung der Katholischen Kirche nehmen: Dort wird es in katholisch getragenen Heimen diese Möglichkeit eines assistierten Suizids einfach nicht geben. Punkt. Dann müssen die betroffenen Menschen sich anderswo einen Ort und Hilfe suchen. Das halte ich für problematisch. Es ist unser christlicher Auftrag, Menschen in diesen Situationen zu begleiten und nicht alleine zu lassen.

Wie geht da die Trennlinie durch die Landeskirchen? Ist ihre Haltung in Bayern leichter vermittelbar als in Württemberg?

Hartmann: Nein, sie ist überall in gleicher Weise schwierig - und erleichternd zugleich. Schwierig ist sie, wie man an der aktuellen Debatte sieht, wegen der scheinbar unversöhnlichen Positionen. Und erleichternd, weil es etliche Menschen gibt, die eine solche Begleitung durch Kirche und Diakonie in dieser Frage wollen. Das ist nicht zuerst eine Frage der Regionen oder auch der religiösen Prägung, sondern eine gesamtgesellschaftliche Entwicklung.