In der Stadt, die Martin Luther als "das Auge und Ohr Deutschlands" pries, fuhr der Zug schon eine ganze Weile in Richtung Reformation. Aber "Nürnberg war hin- und hergerissen", schildert die Historikerin Jennifer Oevermann die Stimmung in der Stadt vor fünf Jahrhunderten. Zwar finden die reformatorischen Predigten, auch von Größen der Reformation wie Philipp Melanchthon, beim Volk großen Anklang. Aber die Reichsstadt ist auch dem Kaiser unterstellt, der den päpstlichen Glauben behält. Den will man nicht brüskieren, so die Expertin vom Verein "Geschichte für alle".
Der angesehene Prediger an der St. Lorenzkirche, Andreas Osiander, ist der führende Theologe der Reformation in Nürnberg, aber nicht der einzige. Der Samen für die Reformation in Nürnberg wird im Augustinerkloster gelegt. Dorthin kommt immer wieder der väterliche Freund Martin Luthers, der Augustinermönch Johann von Staupitz zu Besuch. Dessen Predigten bringen es fertig, "dass sie Trost und Hilfe dem Menschen appliziert und mehr zu seiner Ergötzung, denn zu seiner Verzweiflung gebraucht wird." Bei einer Adventspredigt 1516 ist die Augustinerkirche "berstend voll", heißt es in einer Chronik. Die Prediger zeigen, "wie Worte die Stadt verändern", stellt in einer Ansprache zum Reformationstag im Jahr 2002 in Nürnberg der verstorbene Kirchenhistoriker Gottfried Seebaß fest.
Der Wandel der Kirche und Gesellschaft
Die reformatorischen Gedanken setzen sich durch. Nach und nach geht in die Kirchenordnungen ein, dass der Mensch immer auf die Gnade Gottes angewiesen ist. Abendmahle werden als Gemeindemahle mit Brot und Wein gefeiert. Die Heiligenfeiertage werden aufgehoben. Bereits 1522 führt der Rat eine Armenfürsorge ein, nachdem die Güter der Kirchen eingezogen sind. Zu den neuen Aufgaben der Stadt gehört das Schulwesen, das 1526 zur Gründung des ersten Gymnasiums durch Philipp Melanchthon führt.
Weil Kirche und Staat verwoben sind, wirkt sich das auch gesellschaftlich aus, wie Oevermann am Beispiel des Nürnberger Henkers Franz Schmidt erklärt. Denn mit dem neuen Glauben ist es dem Rat wichtig, dass die Verurteilten bereuen, bevor sie hingerichtet werden, und am Hinrichtungsort ihre Seele in die Hände Gottes legen. Vorher darf der Henker dem Delinquenten die Schlinge nicht um den Hals legen.
Das Religionsgespräch als Weichenstellung
Als 1524 das Reichskammergericht von Nürnberg nach Esslingen verlegt wird, werden die Nürnberger mutiger. Zwar hat Kaiser Karl V. verboten, Religionsgespräche durchzuführen, aber das schert den Rat nicht, der die reformatorische Bewegung in Bahnen lenken möchte. Er ruft Alt- und Neugläubige zu einem Religionsgespräch in den Rathaussaal, in dem nicht nur die Räte, sondern auch Handwerker und Künstler sitzen. Die lutherisch Gesinnten kommen gerne zum Disput. Die Prediger aus den Karmeliten- und Barfüßerklöstern, das Lager der Katholiken, sind nicht begeistert.
An sechs Tagen im März 1525 streiten sich die Theologen nach festgelegten Regeln. Die Fenster des Rathaussaals sind weit geöffnet, damit das Volk zuhören kann. "Eine symbolische Geste", erklärt Oevermann, mit der man eine Legitimation herstellt und man öffentlich zeigt, "jeder hätte ja der Aufführung des Konsenses widersprechen können". Aber aus der Bevölkerung kommt kein Widerstand. Die Stimmung ist vielmehr aufgewühlt. Das Volk schreit, man möge ihm die Mönche herauswerfen.
Der Niedergang der Klöster
Einen Grund für den Reformwillen des Nürnberger Volks haben die Klöster selbst gelegt. Man sagt, in ihnen herrsche ein "lockeres Leben im Überfluss". Dieses Leben finanzieren sich Mönche mit dem Verkauf der Schriften aus den Klosterbüchereien. Die Bibliothek von St. Egidien soll schließlich nur noch aus zwei Büchern bestehen.
Festgelegt ist für die Religionsgespräche, dass nur auf Basis der Bibel argumentiert werden darf, gleichermaßen eine Vorfestlegung auf den Glauben, den Luther vertritt. Moderiert wird der "Wettbewerb" vom Rechtsprofessor Christoph Scheurl, der auf diese Vorgabe achtet. Der Prediger an der Nürnberger Lorenzkirche, Andreas Osiander, brennt in diesen Religionsgesprächen mit scharfem Verstand ein Argumentationsfeuerwerk ab und redet die katholischen Klosterprediger praktisch an die Wand. "Was Osiander glaubt, das müssen auch die Nürnberger glauben", stellt ein Besucher aus Augsburg fest.
Osianders Aufstieg und Fall
In den kommenden Jahren macht sich Osiander aber unbeliebt. Die Gegner nennen den Prediger spöttisch den "Papst von St. Lorenz". Der stellt sich im Laufe der kommenden Jahre als streitlustiger, wenig kompromissbereiter, humorloser Besserwisser heraus. 1548 verlässt er die Stadt, die ihm nicht nachweint.
Wer in die evangelischen Bürgerkirchen St. Sebald und St. Lorenz in Nürnberg tritt, staunt über Kunstwerke und Heiligenabbildungen. In der Reichsstadt fegt nach dem Beschluss für den lutherischen Glauben kein Bildersturm durch die Gotteshäuser. Die Kunst kann bleiben, denn es "waren die Stadtpatrizier selbst, die diese Kunst gestiftet hatten und diese jetzt nicht zerstören wollten", erklärt Oevermann. Ein Glück nicht nur für den berühmten Engelsgruß.

Bei einer internationalen Tagung im Nürnberger Rathaussaal am 14. und 15. März beleuchten Experten das Nürnberger Religionsgespräch von 1525 aus verschiedenen Perspektiven. 500 Jahre nachdem der Rat der Stadt bestimmte, dass Nürnberg lutherisch werden sollte, steht die historische Bedeutung dieses Ereignisses im Fokus. Auch Ministerpräsident und Landesbischof nehmen teil. Am Sonntag (16. März) hält die Nürnberger Regionalbischöfin Elisabeth Hann von Weyhern gemeinsam mit dem Erzbischof von Bamberg und der Arbeitsgemeinschaft christlicher Kirchen einen ökumenischen Festgottesdienst.
In ihrem Vorwort zur Tagung schreibt Nürnbergs Kulturbürgermeisterin Julia Lehner, das Religionsgespräch gehöre zu den Schlüsselereignissen der Reformation. Nachdem 2017 bereits 500 Jahre Reformation gefeiert wurden – übertreibt sie da nicht ein wenig?
Elisabeth Hann von Weyhern: Doch, das Religionsgespräch 1525 war ein Meilenstein. Es kamen für die Reichsstadt und die Kirchlichkeit Faktoren zusammen, die das Ereignis besonders machten. Nürnberg befand sich damals in einer Epoche, in der die Gesellschaft zu zerreißen drohte. In der Stadt hat man gesehen, hier steht eine Veränderung an, und mit dem Religionsgespräch ist sie ins Risiko gegangen. Aber es ging nicht nur um die Religion, sondern auch darum, dass alte Institutionen ihre Glaubwürdigkeit verloren hatten. Es war der Eindruck entstanden, dass es ihnen nicht mehr um die Menschen ging.
"Die Rolle der Kirchen heute ist, der Idee, dass man in einer versöhnten Verschiedenheit leben kann, Raum zu geben"
Auch von den heutigen Zeiten kann man sagen, dass sie disruptiv sind, es herrscht Streit und Unruhe. Können sich heutige Akteure etwas aus den Ereignissen 1525 in Nürnberg abschauen?
Damals war der Weg, auf Radikallösungen zu verzichten, die Diskursregeln zu akzeptieren und einen Kompromiss wertzuschätzen. Aber man konnte sich in der Zeit eine gesellschaftliche Einheit nur vorstellen, wenn es ein einheitliches Bekenntnis gab, das eindeutig auf der Grundlage der Bibel gründete. Damit begann ein Lernweg. Aber der Frieden, zu dem man nur über die Einheitlichkeit kam, hatte seinen Preis: Die Juden waren zuvor schon vertrieben, gegen die Mönche wurde gehetzt und die Schwärmer (Anmerkung: radikale Reformatoren wie Thomas Münzer) gab es in der Stadt nicht mehr. Die Rolle der Kirchen heute ist, der Idee, dass man in einer versöhnten Verschiedenheit leben kann, Raum zu geben. Heute akzeptieren wir, wenn die anderen Konfessionen sagen, dass auch sie auf dem Grund der Bibel stehen. Das heißt auch, ein Frieden, der geachtet wird, ist ohne Radikallösungen möglich.
Eine der Hauptfiguren des Nürnberger Religionsgesprächs war Andreas Osiander (1498–1552). Er war ein hervorragender Prediger, dem das Volk an den Lippen hing, und einer, der keine Kompromisse akzeptieren wollte. Ist Osiander heute noch ein Vorbild für Predigerinnen und Prediger in der evangelischen Kirche?
Ja, wir brauchen etwas von Osiander, aber wir brauchen auch etwas von einem Lazarus Spengler, der das Religionsgespräch moderierte und mit der Kraft der Disziplin einen Frieden in der Stadt herstellen wollte. Es gab zudem noch einen Visionär namens Georg Fröhlich, den Schreiber von Spengler, der damals schon meinte, Toleranz könnte auch heißen, dass mehrere Konfessionen nebeneinander existieren. Ihn haben die Geschichtsbücher jedoch bald wieder verschluckt.
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