Ist es ein Gottesdienst - oder doch eher eine "religiöse Übung"? Hans Jürgen Luibl und Christoph R. Morath sind sich da nicht ganz sicher. Immerhin trägt die seit nunmehr 20 Jahren in Erlangen stattfindende Reihe "Wort und Musik" im Untertitel immer noch den Beinamen "Gottesdienst für nachdenkliche Spätaufsteher". Die zahlreichen Gäste sind dabei ebenso wie die beiden Macher keine Langschläfer, sondern sehr aufgeweckte Geister. Die Theologen spüren alle vier Wochen der Frage nach, wo Gott bei all dem seine Finger im Spiel hat.
"Schuld" ist eigentlich der 11. September 2001. Luibl, Pfarrer und Vorsitzender der Arbeitsgemeinschaft Evangelische Erwachsenenbildung in Bayern, erinnert sich noch gut an diese "Bilder des Irrsinns" des brennenden World-Trade-Centers in New York und die hinein krachenden Flugzeuge. Am Sonntag drauf sollte er in seinem Einführungsgottesdienst als Leiter der Evangelischen Bildung in Erlangen predigen. Nur worüber? Die Bildzeitung titelte damals "Großer Gott, steh uns bei!", radikale Muslime brüllten "Allahu akbar". Luibl predigte über Gott, der größer als das ist, was Menschen aus ihm machen. Der Gott der Barmherzigkeit und des Friedens stecke mitten in dieser Welt, im Terror wie in Sonnaufgängen.
Von der Predigt zum neuen Gottesdienstkonzept
Der Spagat zwischen Verurteilen der Tat, Gedenken und Hoffnung schöpfen sei gelungen und sei auf offene Ohren gestoßen, erzählt Luibl. Nicht nur in der Gemeinde, sondern auch bei Luibls Pfarrerskollegen und Kirchenmusiker Morath. Gemeinsam entwickelten die beiden ein Gottesdienstkonzept mit Worten zum Nachdenken und Musik als Resonanzraum der Seele, mit Gebet und Segen. Es sollten Menschen erreicht werden, die für den religiösen Blick auf und hinter verschiedenste Themen, den Austausch, das aneinander Reiben und theologische Qualität offen sind.
Das war vor 20 Jahren. Mittlerweile haben Luibl und Morath rund Tausend Menschen erreicht. Mal wurden sie auf eine Wanderung durch die Höllenängste des mittelalterlichen Dichters Dante oder in das Leben und Denken des evangelischen Revolutionärs Jan Hus geführt. Mal wurde der Blick auf Kirchenasyl, religiöse Karikaturen oder das erste elektrische Licht gelenkt. Mal standen Figuren der Popkultur wie Marilyn Monroe oder Ludwig Thomas "Münchner im Himmel" im Mittelpunkt.
Vorab-Film zu jedem "Wort und Musik"-Mittag auf YouTube
Seit rund zwei Jahren gibt es zum jeweils nächsten "Wort und Musik"-Mittag auch einen Vorab-Film, der auf YouTube und anderen Kanälen verbreitet wird. "Wir sprechen auch Kirchenverächter, im Sinne Schleiermachers, kritische Geister gegenüber den Institutionen und politisch völlig entgegengesetzt Denkende an", sagt Morath. Sein Part ist zudem die Musik, für die er auch manche selten gespielte Schätze aus dem Evangelischen Gesangbuch hebt und mit modernen Klängen mixt. Da gibt’s schon mal einen Crossover aus Luthers "Feste Burg" und der Europahymne oder freie Improvisationen.
Austausch und Diskussion mit Gästen im Anschluss
Wichtig ist den beiden der Austausch und die Diskussion mit den Gästen im Anschluss. Die werden im Zuge der rund einstündigen Veranstaltungen nicht nur im Geiste, sondern auch emotional angepackt. Dafür sorgt einerseits Morath mit seinem Orgelspiel, aber auch Luibl mit teils spitzzüngiger, aber hintergründiger Ansprache, bei der manchmal eine Drahtpuppe als Gegenüber eingesetzt wird. "Wir werfen uns die Bälle zu, ein Wort ergibt meistens das nächste", sagt Morath.