Es gibt sie, die Banalität des Bösen: Stephan Balliet hat seinen Anschlag auf die Synagoge von Halle live ins Internet übertragen. Wer sein Video sieht, begegnet einem jungen Mann, dem nichts gelingt, ein Attentäter, der sich selbst leid tut, weil seine selbstgebastelten Waffen auseinanderfallen ("Niete!", "Versager!"), während er beiläufig einer 40-jährigen Passantin in den Rücken schießt und einen um sein Leben wimmernden 20-Jährigen im Dönerladen abknallt. Als Balliet mit seinem Maschinengewehr erneut auf die bereits tote Frau schießt, zerschießt er sich einen Reifen. Jana L. und Kevin S. sind die Opfer eines mörderischen Trottels, der wirr von einer zionistischen Weltverschwörung faselnd auszog, um Juden und Muslime töten.

Ein psychisch gestörter Einzeltäter? Schon dass der Täter eine Helmkamera trug und sein Morden live auf einer Gaming-Plattform streamte, beweist, dass diese These nicht stimmt.

Rechtsextremismus und Antisemitismus sind das Problem

Deswegen wie Innenminister Horst Seehofer alle unter Verdacht zu stellen, die im Internet ­zocken, ist Unfug. Das Problem heißt Rechtsextremismus. Das Problem heißt Antisemitismus. Und Halle war kein "Alarmzeichen", sondern eine Katastrophe mit Ansage.

1799 antisemitische Straftaten wurden im Jahr 2018 in Deutschland gezählt. Juden werden in öffentlichen Verkehrsmitteln angepöbelt, Rabbiner bespuckt, regelmäßig jüdische Friedhöfe geschändet, auf Demonstrationen wie beim Al-Quds-Tag 2014 in Berlin wird auch mal "Juden ins Gas!" gefordert. Antisemitismusforscher sehen inzwischen in israelbezogenem Antisemitismus ("Israelkritik") die "vorherrschende Ausprägungsvariante".

Aus den Statistiken geht ein besonders hoher rechtsextremistischer Anteil an Gewalttaten gegen Juden hervor. Dass viele Juden in Deutschland den muslimischen Antisemitismus als besonders aggressiv empfinden und dass sich das Problem durch die starke Zuwanderung aus dem arabischen Raum verschärft hat, kann man damit nicht vom Tisch wischen.

Protestantische Glaubensflüchtlinge

Balliets Mutter erklärte zum Antisemitismus ihres Sohns dem Spiegel: "Er hat nichts gegen Juden in dem Sinne. Er hat was gegen die Leute, die hinter der finanziellen Macht stehen – wer hat das nicht?" Die Frau ist Grundschullehrerin. Noch Fragen zum gesellschaftlichen Mutterboden, auf dem Antisemitismus gedeiht?

Balliet, der Juden und Migranten hasste, ist selbst der Nachfahre von Auswanderern. Sein Familien­name ist hugenottisch: protestantische Glaubensflüchtlinge, die einst unter anderem im toleranten Preußen Asyl fanden.

Aufgewachsen ist er übrigens in Sichtweite des Elternhauses von Martin Luther. Der wiederum zählt leider zu den größten Ahnherren des Judenhasses deutscher Prägung.