Anfang Oktober sind die Ergebnisse einer neuen Online-Umfrage veröffentlicht worden, die sich mit der Frage auseinandergesetzt hat, in welchem Ausmaß Menschen im freikirchlichen Umfeld von sexualisierter Gewalt betroffen sind und welche Hilfsmaßnahmen sie bräuchten.
Die Journalisten Debora und Daniel Höly aus Rheinbach in Nordrhein-Westfalen haben zwischen November 2022 und Februar 2023 6.744 Menschen befragt und die Ergebnisse unter dem Titel "UNERHÖRT. Sexualisierte Gewalt im freikirchlichen Umfeld" zusammengefasst.
Umfrage zu sexualisierter Gewalt in Freikirchen
Es handelt sich dabei um keine wissenschaftliche Studie, sondern um eine journalistische Online-Umfrage, die erhobenen Daten basieren auf der Selbstauskunft der anonymen Teilnehmenden, die den Fragebogen vollständig ausfüllten.
"Das Ziel der Umfrage bestand nicht darin, eine statistisch repräsentative Erhebung der gesamten Mitglieder freikirchlicher Gemeinschaften durchzuführen. Vielmehr ging es – neben den beiden zentralen Auswertungszielen – darum, ein realistisches Bild der Erfahrungen jener zu gewinnen, die von sexualisierter Gewalt betroffen sind. Die Umfrage besitzt einen explorativen Charakter und zielt darauf ab, ein bisher wenig erforschtes Phänomen in diesem spezifischen Kontext zu beleuchten. Sie dient somit als Instrument zur Sensibilisierung und Bewusstseinsbildung", so die Autor*innen Höly.
Das Ehepaar, das die Untersuchung nach eigenen Angaben unabhängig und ehrenamtlich konzipiert, durchgeführt und ausgewertet hat, beschreibt seine Motivation damit, dass es immer wieder Menschen aus dem christlichen Umfeld begegnet sei, die sexualisierte Gewalt in freikirchlichen Gemeinden oder Milieus erlebt hätten.
"Diese Personen berichteten wiederholt davon, dass sie in ihren familiären und freikirchlichen Gemeinschaften kein Gehör gefunden hatten und als Einzelfälle abgetan wurden", schreiben die Autor*innen zur Einleitung ihrer Studie.
Erste Recherchen zur Häufigkeit von sexualisierter Gewalt in freikirchlichen Gemeinden seien ins Leere gelaufen. Es gäbe weder belastbare Zahlen, wie viele Menschen betroffen sind oder waren, noch eine öffentliche Debatte über den Umgang mit derartigen Vorfällen oder deren Aufarbeitung.
Freikirchen
Als Freikirche ist eine Gemeinschaft von evangelischen Christ*innen zu verstehen, die keiner Landeskirche angehört. Freikirchen legen häufig besonderen Wert auf die Trennung von Staat und Kirche und bekommen keine Gelder aus Kirchensteuer, typisch für sie ist auch das Ziel, ihren Glauben aktiv zu verbreiten, zu missionieren.
Religion und auch das Gemeindeleben, die Gemeinschaft mit den anderen Mitgliedern der eigenen Freikirche, ist oft besonders wichtig, es wird viel Zeit miteinander verbracht. Die Zugehörigkeit zu einer Freikirche entscheidet sich meist über die Taufe, die oft erst ab dem Teenageralter gefeiert wird, da jedes Mitglied selbst entscheiden soll, ob und wann es offiziell eintreten möchte.
Bekannte Freikirchen in Deutschland sind die Glaubensgemeinschaften der Adventisten, Baptisten, Methodisten, oder auch Pfingstler. In theologischer Hinsicht gibt es unter den Freikirchen ein breites Spektrum, das von fundamentalistisch bis liberal reicht, viele Freikirchen sind auch als evangelikal einzustufen. Insgesamt sind etwa 300.000 Gläubige den Freikirchen zuzuordnen.
"Pionierarbeit" mit neuer Umfrage
Mit ihrer "Pionierarbeit" wollen Debora und Daniel Höly deshalb einen ersten Anhaltspunkt liefern, das Thema sichtbar machen und "zur weiteren Auseinandersetzung sowie Etablierung geeigneter Maßnahmen anzuregen". Wichtig sei ihnen vor allem, Betroffenen eine Stimme zu geben und ihr Leid sichtbar zu machen.
Dabei konzentrierte sich das Ehepaar auf zwei Hauptfragen:
1. Wie hoch der Anteil der Betroffenen von sexuellem Missbrauch in deutschen Freikirchen ist, und
2. Wie viele der Täter aus dem deutschen freikirchlichen Umfeld stammen.
Die Umfrage umfasst dabei laut den Autor*innen sowohl sexuellen Missbrauch an Kindern und Jugendlichen als auch andere Formen sexualisierter Gewalt gegenüber Erwachsenen, etwa im Kontext von Ehe- oder Partnerschaftsverhältnissen.
Die ganze Umfrage samt Auswertung kann über hier über die eigens eingerichtete Webseite eingesehen werden.
Die wichtigsten Erkenntnisse zusammengefasst:
- 6.722 Menschen nahmen an der Online-Umfrage teil, davon sind 5.294 dem deutschen freikirchlichen Umfeld zuzuordnen
- Von den 6.744 Teilnehmenden gaben 1.034 an, Betroffene von sexualisierter Gewalt zu sein
- Von den 5.294 Teilnehmenden aus dem deutschen freikirchlichen Umfeld gaben 16 Prozent an, mindestens einmal von sexuellem Missbrauch betroffen (gewesen) zu sein
- Ausgehend von der Gesamtheit aller Umfrageteilnehmer beträgt der Anteil der Betroffenen durch Täter aus einem freikirchlichen Umfeld 9 Prozent.
- Bei den Betroffenen, deren Täter aus einem freikirchlichen Umfeld stammen, gehörte die überwiegende Mehrheit der Täter (52 Prozent) dem nahen sozialen Umfeld an (Vater, Mutter, Bruder, Ehepartner oder Verwandte)
- Zum Zeitpunkt des ersten sexuellen Missbrauchs waren 75 Prozent der Betroffenen unter 15 Jahre alt
- Bei 46 Prozent der Betroffenen vergingen mindestens sechs Jahre, bevor sie sich erstmals einer anderen Person anvertrauten. 13 Prozent haben bis heute niemandem von ihren Erfahrungen berichtet
- Mehr als die Hälfte der Betroffenen (55 Prozent) gab an, dass die Person, der sie von dem Missbrauch erzählten, ihnen zwar Glauben schenkte, jedoch keine weiteren Maßnahmen ergriff
- Die überwiegende Mehrheit der Umfrageteilnehmer (75 Prozent) beantwortete die Frage, ob es in ihrer aktuellen Gemeinde Anlaufstellen zu sexuellem Missbrauch gibt, mit "Nein" oder "Weiß nicht"
- Mit 43 Prozent geben die meisten Umfrageteilnehmer an, dass in ihren Gemeinden nicht über das Thema sexueller Missbrauch gesprochen wird
Fazit der Journalist*innen
In ihrem Nachwort fassen die Autor*innen der Umfrage zusammen, welche Schlüsse sie aus der Umfrage ziehen: "Ja, auch im freikirchlichen Umfeld gibt es ein Problem mit sexuellem Missbrauch. Ein Problem, das bislang den Aussagen der Betroffenen zufolge noch viel zu wenig Beachtung fand. Und ein Problem, das viele weitere, zum Teil schwerwiegende Fragen aufwirft. Aber auch ein Problem, das man im Grunde
nicht isoliert betrachten kann. Oft geht sexueller Missbrauch Hand in Hand mit seelischem, geistlichem und körperlichem Missbrauch. Auch von Inzest und ritueller Gewalt war immer wieder die Rede. Es ist ein Sumpf, von dem die Umfrage nur die Oberfläche berührt hat." Es sei noch viel Forschungs- und Aufklärungsarbeit nötig, so Debora und Daniel Höly.
Anzuerkennen, dass "unser freikirchliches Umfeld leider nicht so heil ist, wie es bislang schien", koste Mut und Überwindung, doch es sei der "einzige heilsame Weg nach vorne." Am Ende der Zusammenfassung der Umfrage steht der klare Appell: "Schaut hin, schweigt nicht länger. Das
ist der einzige Weg nach vorne."
Hilfe für Betroffene sexualisierter Gewalt
Hilfe-Portal Sexueller Missbrauch:
Das bundesweite "Hilfe-Portal Sexueller Missbrauch" bietet Hilfe und Unterstützung bei sexueller Gewalt gegen Kinder und Jugendliche – vor Ort, online oder telefonisch. Menschen, die Hilfe und Unterstützung suchen, erhalten über das Hilfe-Portal eine erste Orientierung. Das Hilfe-Portal Sexueller Missbrauch ist ein Angebot der Unabhängigen Beauftragten für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs (UBSKM).
Hilfe-Telefon Sexueller Missbrauch:
Das Hilfe-Telefon Sexueller Missbrauch (0800 22 55 530) ist die Anlaufstelle für Betroffene von sexueller Gewalt in Kindheit und Jugend, für Angehörige sowie Personen aus dem sozialen Umfeld von Kindern, für Fachkräfte und für alle Interessierten. Wer von sexueller Gewalt betroffen ist, sich um ein Kind oder eine*n Jugendliche*n sorgt, einen Verdacht oder ein komisches Gefühl hat oder sich unsicher ist und Fragen zum Thema stellen möchte, kann sich vertrauensvoll an das Hilfe-Telefon Sexueller Missbrauch wenden. Die Berater*innen des Hilfe-Telefons sind psychologisch und pädagogisch ausgebildet, jedes Gespräch bleibt vertraulich. Das Hilfe-Telefon berät Jugendliche und Erwachsene auch online vertraulich und datensicher zu allen Fragen, die mit dem Thema sexueller Missbrauch zu tun haben.
Das Hilfe-Telefon Sexueller Missbrauch ist ein Angebot von N.I.N.A. e. V. (Nationale Infoline, Netzwerk und Anlaufstelle zu sexueller Gewalt von Mädchen und Jungen), gefördert von der Unabhängigen Beauftragten für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs.
BeNe:
Die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) betreibt ein Online-Netzwerk für Betroffene sexualisierter Gewalt. In den Foren des Betroffenen-Netzwerks "BeNe" der Evangelischen Kirche in Deutschland könnten sich Menschen, die Missbrauch erfahren haben, in sicherem Rahmen austauschen und sich vernetzen.
Kein Täter werden:
Wer bei sich selbst oder anderen pädophile Neigungen festgestellt hat, wendet sich an das Präventionsnetzwerk "Kein Täter werden".
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