"Eigentlich wollte ich schon im letzten Dezember austreten, aber dann kam ein Umzug und später Corona dazwischen", erzählt Frederik Schalwitz (Name wurde geändert).

Vor etwa einem Jahr hat der 25-jährige Augsburger seinen ersten gut bezahlten Job in München angetreten. Dass er künftig einen Teil seines Gehalts für seine Kirchenmitgliedschaft abtreten muss, war ihm damals noch nicht bewusst.

"Mit der Kirchensteuer ist meine Mitgliedschaft für mich zum ersten Mal – auch finanziell – sichtbar geworden", erzählt Frederik. Acht Prozent seiner Einkommensteuer flossen seither, Monat für Monat, in die Kasse der Evangelischen Kirche.

Früher hat er sehr viel Zeit im kirchlichen Umfeld verbracht, war bis zu seinem 20. Lebensjahr in Jugendgruppen aktiv. "Mittlerweile fühlt sich meine Kirchenmitgliedschaft aber an, wie eine Mitgliedschaft in einem Fitnessstudio, die ich zwar bezahle, aber nicht mehr nutze", sagt Frederik. Das soll sich bald ändern: Er will austreten und wartet nur noch auf den richtigen Moment.

Kirchenaustritte: Finanzielle Verpflichtungen sind ein Auslöser

Frederik zählt zu der Gruppe von Menschen, die am häufigsten aus der Kirche austritt: den 20- bis 35-Jährigen. Wie dem Augsburger wird vielen jungen Menschen erst nach ihrem Eintritt in die Arbeitswelt bewusst, dass ihre Kirchenzugehörigkeit auch an finanzielle Verpflichtungen geknüpft ist.

"Diese Erkenntnis ist für junge Menschen oft der Auslöser, um gemäß einem Kosten-Nutzen-Kalkül abzuwägen, was sie im Gegenzug für ihren Mitgliedsbeitrag eigentlich von der Kirche zurückbekommen", erklärt Dr. Tobias Faix.

Der evangelische Theologe erforscht an der CVJM-Hochschule in Kassel die Dynamik von Kirchenaustritts- und Verbleibmotiven und betont, dass nicht nur materielle, sondern auch emotionale Kosten, wie persönliche Enttäuschungen oder Entfremdungsprozesse die Waagschale in Richtung Austritt kippen lassen.

Und das geschieht in Bayern vor allem bei jungen Menschen: 31 Prozent der getauften Männer und 23 Prozent der getauften Frauen verlassen hierzulande bis zu ihrem 31. Lebensjahr die Kirche.

"Dabei ist es selten ein einzelnes Motiv, sondern ein ganzes Bündel an Gründen, das diese Menschen zum Austritt bewegt", so Faix. Der Kirche den Rücken zu kehren sei deshalb oft nur die letzte Konsequenz eines langen Entfremdungsprozesses.

Frederik: "Brauche keine Kirche, um meinen Glauben zu feiern"

Eines Entfremdungsprozesses, der in Frederiks Fall vor etwa fünf Jahren begann. Bevor er zum Studieren nach München zog, hatte er sich in Augsburg noch jeden Monat etwa 25 Stunden im kirchlichen Umfeld engagiert. Sein Bezug zur Kirche war für ihn allerdings sehr eng an die Personen aus seiner Heimatgemeinde geknüpft.

"Nach meinem Umzug war das dann einfach nicht mehr da", erzählt Frederik. Heute arbeitet er viel und geht am Wochenende gerne mit Freunden feiern, viel Zeit für andere Dinge bleibt da nicht.

"Ich habe eine schöne und vor allem auch prägende Zeit in der Kirche erlebt – heute brauche ich aber keine Kirche mehr, um meinen Glauben zu feiern", sagt Frederik.

Und mit diesem Empfinden steht er nicht allein.

32.387 bayerische Protestanten haben vergangenes Jahr ebenfalls befunden, dass sie die Kirche nicht länger brauchen – so viele wie nie zuvor. Denn laut einer Studie von Freiburger Wissenschaftlern könnte sich die Zahl der Kirchenmitglieder in den nächsten 40 Jahren halbieren.

Für die evangelische Kirche Deutschlands (EKD) würde das bedeuten, dass sie von 21,5 Millionen Mitgliedern im Jahr 2017 auf 10,5 Millionen im Jahr 2060 schrumpft. Mit der Konsequenz, dass sich auch die Finanzkraft der Kirche in etwa halbiert.

Kirche hat Möglichkeiten aktiv einzugreifen

Und obwohl der Mitgliederrückgang in Bayern laut der "Projektion 2060" mit 44 Prozent etwas schwächer ausfallen wird, würden von den etwa 2,37 Millionen bayerischen Protestanten in 40 Jahren nur noch 1,3 Millionen übrigbleiben.

Doch die Studie bietet nicht nur Anlass zu Kummer und Sorge. Die ELKB kann zwar nichts daran ändern, dass künftig viele Kirchenmitglieder altersbedingt versterben werden. Für mehr als die Hälfte des Rückgangs sind allerdings beeinflussbare Faktoren wie Taufen, Eintritte und Austritte verantwortlich. Die Kirche ist also keineswegs dazu verdammt, den Mitgliederrückgang tatenlos über sich ergehen zu lassen, sondern hat die Möglichkeit, aktiv in den Prozess einzugreifen.

Eine Aufgabe mit der in Bayern unter anderem der Planungsreferent der ELKB, Thomas Prieto Peral, betraut ist. Er ist Teil des Leitungsteams des landeskirchlichen Reformprozesses "Profil und Konzentration" (PuK) und gibt sich nicht der Illusion hin, dass sich der Trend der Kirchenaustritte gänzlich umdrehen ließe.

Denn auf viele Faktoren, wie die Säkularisierung und den damit einhergehenden Relevanzverlust von Institutionen, habe man als Kirche schlicht keinen Einfluss.

Natürlich sei die Hoffnung, dass man künftig wieder mehr Menschen für sich gewinnen könne – laut dem Planungsreferenten ginge es bei PuK aber vor allem darum "als Kirche wieder zum eigenen Auftrag zu kommen und sich auf das zu konzentrieren, was für die Menschen in der Region wirklich wichtig ist."

Ein Ideal, dem man sich im PuK-Erprobungsdekanat Feuchtwangen langsam anzunähern scheint. Dort hat man, im Dialog mit der Bevölkerung, bereits ein Schwerpunktthema ausgemacht, um das man sich künftig verstärkt kümmern möchte: die generationenübergreifende Familienarbeit.

Vom Babysitter-Service über Fahrdienste für Jugendliche bis hin zur Entlastung pflegender Angehöriger – "wir wollen Familien helfen, mit den veränderten Rahmenbedingungen zurechtzukommen", sagt Dekan Martin Reutter. Die Angebote des Familienprojekts sollten eigentlich schon im Januar anlaufen, doch Corona hat deren Umsetzung deutlich gehemmt.

"Die einzelnen Projekte stehen aber in den Startlöchern."

Das einheitliche regionale Gottesdienstkonzept hingegen ist längst erprobt und habe sich laut Reutter mittlerweile bewährt. Durch die gemeinsame gottesdienstliche Versorgung der Region hat das kirchliche Personal nun mehr Zeit, um aktiv auf die Menschen zuzugehen, anstatt länger auf deren Kommen zu warten.

Sei es ein Gottesdienst auf dem Marktplatz, dem Schwimmbad oder dem Sportplatz – "wir gehen dorthin, wo die Menschen sich aufhalten", so Reutter.

Wie in Feuchtwangen sollen nun auch die übrigen Dekanate der ELKB bis zur Frühjahrssynode 2021 auf die Menschen in ihrer Region zugehen und herausfinden was diese bewegt. Entlang des jeweiligen Schwerpunktthemas gilt es dann, ein Konzept zu erarbeiten, das von dem Mut geprägt ist, nicht mehr zeitgemäße Dinge wegzulassen, um Energie für Neues freizusetzen.

Neues, das vielleicht zu spät kommen mag, um Frederik zum Bleiben zu bewegen. Ihm irgendwann aber den Gedanken abringen könnte, seine ungenutzte Mitgliedschaft im Fitnessstudio zugunsten einer Mitgliedschaft zu kündigen, in der er wieder einen Nutzen entdeckt hat.