Die großen Kirchen leiden unter Schwindsucht: Immer mehr Menschen treten aus. Corona wird bei den Kirchensteuern zusätzlich für kräftige Einbrüche sorgen. Und nur noch 20 Millionen Deutsche werden 2060 Mitglied einer Kirche sein, hatte schon 2019 eine Studie vorausgesagt.
"Immer noch viel!" seien das, sagen die einen und wollen "unaufgeregt" schrumpfen, wie der Cheftheologe der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), Thies Gundlach jüngst in einem Interview meinte. Andere blicken mit größeren Sorgen in die kirchliche Zukunft.
Theologisch gesehen ist Christus der Herr der Kirche. Er baut seine Kirche. Das entlastet und kann anspornen. Es stellt auch jede "Machbarkeit" in Sachen Mitgliederbindung infrage. Das kann als bequeme Entschuldigung dienen.
Aufbruch zur NGO-Kirche
Keinesfalls steht es der Kirche Jesu Christi gut zu Gesicht, zu einer NGO zu werden, zu einer Nichtregierungsorganisation wie Amnesty oder Greenpeace. Nur halt mit frommem Zentralthema: nicht mit Klima und Ökologie als Kernkompetenz, sondern mit Kreuz und Ökumene, wobei es ja schon mit der Ökumene traditionell ziemlich hapert.
Genau das, eine NGO-Kirche mit Rettungsschiff und anderen Aktionen ist es aber, die den Kirchenoberen so vorschwebt, wenn man den "Elf Leitätzen" zur Zukunft der Kirche folgt, die eine hochrangige EKD-Arbeitsgruppe während des Pandemie-Lockdowns vorgelegt hat. Von den Gemeinden vor Ort erhofft sich diese Aktivistenkirche keine entscheidenden Zukunftsimpulse mehr. Statt über die eigene (tendenziell links-liberale) Milieuverengung kritisch zu reflektieren, soll diese aktiv befördert werden.
Vielleicht ist es gut, einmal einen Schritt zurückzutreten und den Blick zu weiten: Aufklärung, Rechtsstaatlichkeit, religiöse Toleranz inklusive der Freiheit, sich von der Religion zu verabschieden – sie sind nicht überall auf der Welt vom Himmel gefallen. Es sind vermeintlich universale Werte, aber es war die "Christenheit", die sich diese uns so selbstverständlich erscheinende Moderne errungen hat, erringen musste – auch tragisch und blutig. Vor der Münchner Oper steht ein Denkmal, gewidmet Bayerns erstem König Max I. Joseph. Den Sockel zieren Bilder mit dem Regierungsprogramm dieses Erfinders des modernen Bayerns. Eines zeigt den Friedensengel, der einem katholischen Bischof und einem evangelischen Pfarrer segnend die Hände auf die Schultern legt. Der Engel steht für den Staat: Nur er kann Frieden und Gleichberechtigung garantieren.
Der nicht-kirchliche Staat ist kein unchristlicher Staat
Dieser nicht-kirchliche Staat ist kein unchristlicher Staat: Christliche Diskurse, Werte und Horizonte bestimmen unseren Kulturraum zutiefst, auch wenn und wo sie nicht mehr auf den ersten Blick als "christlich" kenntlich sind.
Europa ist nur deshalb Europa, weil im Herzen jedes Dorfes, jeder Stadt eine Kirche steht. Im seit 1905 strikt laizistischen Frankreich, wo jeden Tag zwei Kirchen Opfer von Vandalismus oder Schlimmerem werden, fängt man an, Verlustschmerzen zu spüren. Etwas anderes geschieht in der Türkei. Dort verabschiedet man sich gerade vom Laizismus, den Kemal Atatürk vor knapp 100 Jahren nach französischem Vorbild einführte. Erdogan und viele mit ihm träumen vom islamischen Kalifat.
Was da passiert, ist nicht nur wegen der Hagia Sophia schlimm. Es ist auch deswegen schlimm, weil die Türkei lange der einzige Hoffnungsträger dafür war, dass muslimische Gesellschaften in Lage sind, die Frieden garantierende Trennung von Religion und Staat zu erreichen.
Eine prophetische christliche Kirche dürfte ihrer gewissermaßen "selbstvergessenen" Umwelt – bei uns: Deutschland, Europa – da durchaus etwas lauter zurufen, was sie verliert, was also wir alle verlieren, wo die Volkskirche stirbt. Leider fehlt es dafür an Fantasie, an Deutlichkeit und an Mut.