Solche Musikfeste waren damals ein Riesen-Event für engagierte Laien- wie Profimusiker. Man reiste hin wie bei einer Wallfahrt, um große erhabene Kunst zu erleben und selber mitzugestalten. Übrigens sangen beim "Paulus" im Chor mehr Männer (90 Tenöre!) als Frauen! Für große Massen konzipierte Oratorien wurden zu dieser Zeit viele geschrieben. Mendelssohns "Paulus" aber setzte neue Maßstäbe und wurde schnell zum am häufigsten aufgeführten Werk im 19. Jahrhundert.
Bildeten den Stoff vorher alttestamentliche Geschichten wie bei den oft musizierten Händel-Oratorien oder Aspekte aus dem Leben Jesu, stellte Mendelssohn erstmals einen Apostel ins Zentrum. "Paulus", der für Protestanten wichtigste Apostel, sollte Mendelssohns dezidiertes Bekenntnis zum evangelischen Glauben vor aller Welt deutlich machen.
So kommen auch evangelische Choräle vor, die in einem außerkirchlichen Oratorium eigentlich nichts zu suchen haben. Der letzte davon ist Luthers Glaubenslied "Wir glauben all an einen Gott". Beim Libretto half zwar der Theologenfreund Schubring, Pfarrer in Dessau, mit, die wesentlichen Entscheidungen traf aber der Komponist selber. So vertonte er bewusst mit nicht weniger Drastik als Bach in der Johannes-Passion die Turba-Chöre der Juden, welche zuerst den Stephanus zur Steinigung peitschen und am Ende Paulus und Barnabas.
Gottes Stimme als Frauenchor
Wenn man nicht wüsste, dass der Komponist ein "Judenjunge" ist, wie es damals verächtlich hieß, müsste man ihn unter Antisemitismusverdacht stellen! Das "Damaskusereignis" und die Wandlung des Protagonisten vom Saulus zum Paulus stellt er eindrücklich musikalisch vor - Gottes Stimme vom Himmel als Frauenchor! Dieser Paulus ist für Mendelssohn das Leitbild gerade auch für die jüdisch stämmigen Bürger in Deutschland, und damit setzt er das große Anliegen seines Vaters um, die Mendelssohns mit dem christlichen Zusatznamen Bartholdy als deutsche evangelische Familie zu profilieren.
Schade, dass Vater Abraham, der in drei Jahren wechselhafter Arbeit an diesem Riesenwerk seinen Sohn immer wieder motiviert hatte, die Fertigstellung und Uraufführung nicht mehr erleben konnte. Er starb im Herbst des Vorjahres. Vielleicht aber gab sein Tod den entscheidenden "Kick" für den Sohn: Das bin ich dem Vermächtnis meines Vaters schuldig. Bis kurz vor der Abreise nach Düsseldorf hat er daran gearbeitet und noch einzelne Solo-Nummern ausgetauscht. Die spätere Druckfassung ist das Ergebnis weiterer Überarbeitungen für eine baldige Aufführung in England.
Heute rangiert Mendelssohns "Paulus" in der Gunst von Chören und Publikum eher hinter dem zehn Jahre späteren, durchgehend dramatisch angelegten "Elias", während bei "Paulus" im zweiten Teil zur Predigt des Apostels vordergründig weniger passiert. Bekenntnismusik verzichtet auf Effekthascherei. Dafür gibt es am Ende einen fast liturgischen Segen - "Der Herr denket an uns und segnet uns" - und ein typisch Mendelssohn'sches "Soli Deo Gloria" mit dem prächtigen Schlusschor, der Menschen- und Engelslob verschränkt.