Wenn man in Frankfurt am Main durch die Haupteinkaufsstraße Zeil läuft, kann es sein, dass man von einem netten jungen Mann oder einer netten jungen Frau angesprochen wird mit der Bitte, bei einem Referat für die Universität zu helfen oder an einer Umfrage zu einem theologischen Thema teilzunehmen. Wer sich darauf einlässt, wird bald zu einem Bibelkurs eingeladen. Ohne es zu merken, könnte man dann bei der Neureligion Shincheonji Kirche Jesu (kurz: Shincheonji) gelandet sein.

Shincheonji stammt aus Korea und ist seit etwa 2006 in Deutschland aktiv. Ihre drei Hauptgemeinden sind in Frankfurt am Main, Berlin und Essen, außerdem gibt es noch einen Schwerpunkt in Stuttgart. Zeitweilig aufgetaucht ist Shincheonji auch schon in wechselnden anderen Städten wie Marburg, Offenbach, Mannheim, Hamburg oder München. Schätzungen gehen von etwa 3000 Mitgliedern in Deutschland aus, sagt Oliver Koch, Referent für Weltanschauungsfragen am Zentrum Ökumene in Frankfurt, einer Einrichtung der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau (EKHN) und der Evangelischen Kirche von Kurhessen-Waldeck (EKKW). Koch beschäftigt sich schon seit Jahren mit Shincheonji und berät Menschen, die Fragen zu der Neureligion haben, aber auch Mitglieder, die aussteigen möchten oder deren Angehörige. 

Shincheonji heißt übersetzt "Neuer Himmel und Neue Erde" – beides wollen die Mitglieder von Shincheonji errichten. Gegründet wurde die Neureligion 1984 in Südkorea von Man-Hee Lee. Der 1931 in einer Bauernfamilie geborene Lee sieht sich als verheißener "Pastor der Endzeit", der das Volk Gottes sammelt, um es auf das Kommen Jesu vorzubereiten, heißt es in einer Informationsbroschüre über Shincheonji vom Zentrum Ökumene.

Zentraler Bestandteil des Gemeindelebens sind die Bibelkurse

Auf seiner Deutschland-Homepage schreibt Shincheonji selbst: "Wir glauben, dass die Zeit der Erfüllung der Offenbarung begonnen hat und der Hirte zum Vorschein gekommen ist, von dem Jesus in der Offenbarung spricht." Dieser Hirte soll Man-Hee Lee sein. Laut Zentrum Ökumene bezeichnet er sich selbst als körperlich unsterblich. 

Obwohl Shincheonji stark auf christliche Überlieferungselemente, in erster Linie die Bibel, Bezug nehme, sei sie von ihren Inhalten als nichtchristliche Neureligion zu charakterisieren, heißt es im Ergänzungsheft zum Handbuch Weltanschauungen der Vereinigten Evangelisch-Lutherischen Kirche Deutschlands (VELKD).

Zentraler Bestandteil des Gemeindelebens von Shincheonji sind die Bibelkurse. Jeder Gläubige dürfe "zunächst einmal die Worte der Erfüllung anhand des Bibelkurses prüfen und lernen, um sich für eine Mitgliedschaft nur anhand des Wortes zu entscheiden", schreibt Shincheonji auf seiner Webseite.
Wer an den Kursen teilnimmt, muss schnell sehr viel Zeit investieren: In der Regel finden die Kurse an vier bis sechs Tagen die Woche statt und dauern von nachmittags bis spät abend, heißt es in der Publikation der VELKD. Am Ende jeder Kursstufe muss eine Prüfung abgelegt werden. Bald sollen neue Mitglieder auch selbst missionieren, teilweise werde großer Druck ausübt, schreibt das Zentrum Ökumene. Kritik werde nicht geduldet und der Ausstieg aus der Gruppe sehr schwer gemacht.

Abschlussfeier Absolventen Shincheonji Südkorea
Ausschnitt aus einem Video der 100.000-Absolventen-Abschlussfeier der 12 Shincheonji-Stämme/Klasse 114 des Zion Christian Mission Center am 12. November 2023 im Daegu-Worldcup-Stadion in Südkorea.

2020 musste Shincheonji im Zusammenhang mit der Corona-Pandemie seine Mitgliederzahlen offenlegen: Zu dem Zeitpunkt gab es in Südkorea 212.324 Vollmitglieder und 54.176 "Schüler", also Personen, die noch keine Mitglieder waren, aber Kurse und andere Aktivitäten in den Missionscentern besuchten. Außerhalb von Südkorea gab es im selben Jahr 33.281 Vollmitglieder und 10.951 Schüler. 

In Südkorea steht Shincheonji schon lange unter Druck vonseiten des Staates und wird etwa der "Gehirnwäsche" verdächtigt. Während der Corona-Pandemie gab es Vorwürfe gegen die Kirche, das Virus absichtlich verbreitet und nicht ausreichend mit den Behörden kooperiert zu haben. Von diesen Vorwürfen wurde Man-Hee Lee 2021 freigesprochen. Verurteilt wurde er dagegen im selben Jahr wegen Veruntreuung von Geldern zu vier Jahren Haft auf Bewährung. 

Neben Südkorea sei Shincheonji vor allem in Europa und hier in Deutschland aktiv, sagt Oliver Koch vom Zentrum Ökumene. Die Behauptung von Shincheonji, die am stärksten wachsende Religion weltweit zu sein, stimme auf keinen Fall. Die Gruppe wachse nach seinen Erkenntnissen moderat in Deutschland. 

Missioniert wird hauptsächlich in einem "intellektuell hochstehenden Umfeld"

Neue Mitglieder werden vor allem unter jungen Leuten geworben, die bereits einen Bezug zum Glauben haben - etwa bei Theologiestudierenden oder in anderen christlichen Gemeinden. Shincheonji missioniere hauptsächlich in einem intellektuell hochstehenden Umfeld, etwa an Universitäten, sagt Koch. Neben der Ansprache von Einzelpersonen geht die Organisation auch gezielt auf christliche Kirchengemeinden zu und lädt etwa zu interreligiösen Veranstaltungen oder Friedenskonferenzen ein – auch hier meist unter dem Namen einer Fassadenorganisation und ohne den Namen Shincheonji zu nennen. 

Seit der Corona-Pandemie steigt die Präsenz von Shincheonji auch im Internet und in den sozialen Medien, auch hier oft unter anderen Namen. Zur digitalen Missionierung genutzt werden nach Erkenntnissen des Zentrums Ökumene etwa Instagram, Facebook und andere Messenger, Dating-Plattformen oder auch Tandem-Sprach-Lernplattformen. 

Eine Mitgliedschaft bei Shincheonji müsse nicht zwangsläufig etwas Schlechtes sein, sagt Koch. "Jeder kann in Deutschland seine Religionszugehörigkeit frei wählen und machen, was ihm guttut!". Allerdings bekommen der evangelische Weltanschauungsbeauftragte und seine katholischen Kollegen sowie auch die staatlichen Beratungsstellen viele Anfragen von Menschen, die seit dem Eintritt bei Shincheonji psychosoziale Probleme haben. Auch besorgte Angehörige melden sich. Koch, der sich über das Rhein-Main-Gebiet hinaus zu einem Experten für Shincheonji entwickelt hat, bekommt etwa ein bis zwei Anfragen jede Woche. 

Man-Hee Lee Shincheonji Südkorea Abschlussfeier Absolventen
Ansprache von Man-Hee Lee: Ausschnitt aus einem Video der 100.000-Absolventen-Abschlussfeier der 12 Shincheonji-Stämme/Klasse 114 des Zion Christian Mission Center am 12. November 2023 im Daegu-Worldcup-Stadion in Südkorea.

Schlimm sind für ihn die Fälle, wo Menschen länger Mitglied bei Shincheonji sind und es dadurch zum Abbruch von sozialen Beziehungen zur Familie oder zu Freunden kommt. "Shincheonji vermittelt ein sehr dualistisches Weltbild", sagt Koch. Nur die, die die Lehre von Man-Hee Lee beherzigen, werden gerettet, alle anderen sind verloren und werden als satanisch abgewertet, weshalb man sich von ihnen fernhalten muss. "Das kann zu großen psychischen Problemen führen", sagt Koch. Manche Menschen geben auch ihren Beruf auf und lassen ihr ganzes bisheriges Leben hinter sich. Das seien massive Einschnitte, auch für das soziale Umfeld der Person. 

Ein weiteres Problem sieht Koch darin, dass die Anhänger von Shincheonji zu Beginn des Kontaktes meist verschleiern, zu wem sie gehören. Die Neureligion tritt unter diversen Tarn- und Fassadenorganisationen mit ganz unterschiedlichen Namen auf. Die Organisation selbst gebe an, die Glaubenswahrheit sei nicht geeignet für Menschen, die sich damit nicht auskennen, deshalb könne sie erst langsam nach und nach präsentiert werden, sagt Koch. "Nach unserer Erfahrung führt das aber dazu, dass viele Menschen sich getäuscht fühlen und niemandem mehr vertrauen können. Was sie bei ihrem ersten Kontakt mit Shincheonji als Freundschaften empfunden haben, war nur vorgetäuscht. Das kann zu Angstzuständen und sozialen Psychosen führen." 

2021 hatte die Organisation zwar angekündigt, transparenter werden zu wollen und beispielsweise eine Internetseite geschaltet und Kontaktpersonen benannt. Koch sieht seitdem jedoch schon wieder Rückschritte und erneut ein verstärktes Auftauchen von Tarn- und Fassadenorganisationen. 

Shincheonji sieht sich durch kritische Berichterstattung diskriminiert

Shincheonji Deutschland antwortet nicht auf die ihnen gestellten Fragen. Stattdessen schreibt ein Sprecher der Gemeinde in Frankfurt: "Diskriminierung, Desinformation und diffamierende Aussagen sowie polarisierende Berichterstattung haben zunehmend besorgniserregende Auswirkungen auf das Wohl und die Sicherheit unserer Gemeindemitglieder und führt zur starken Einschränkung der Religionsfreiheit."

Der Sprecher verweist auf ein "White Paper" des Zentrums für die Erforschung neuer Religionen aus Turin und von "Menschenrechte ohne Grenzen" aus Brüssel. Dort heißt es: "Tatsächlich gibt Shincheonji zu, dass Christen und anderen eingeladenen Gästen von Versammlungen nicht unmittelbar mitgeteilt wird, dass der Organisator Shincheonji sei, und dass Mitglieder hin und wieder Gottesdienste anderer Kirchen besuchen, wo sie Menschen treffen, die später zu Shincheonji-Treffen eingeladen werden. Die Bewegung rechtfertigt dies mit der Erklärung, dass Shincheonji-Gegner abwertende Informationen verbreiten und dadurch ein Teufelskreis entstehe. Aufgrund von medialer Verleumdung und feindseliger Propaganda würden nur wenige an Veranstaltungen teilnehmen, wenn der Name Shincheonji genannt wird, da die Bewegung negativ als problematisch für die Gesellschaft beschrieben würde."

Auch Macht spiele eine große Rolle bei Shincheonji, sagt der Weltanschauungsbeauftragte Koch. Die Gruppe sei extrem hierarchisch aufgebaut. Was passiere, wenn Man-Hee Lee irgendwann sterbe, könne er nicht vorhersehen, aber: "Das gesamte Weltbild der Mitglieder bricht dann zusammen." Insgesamt sieht Koch bei Shincheonji viele Merkmale spirituellen oder geistlichen Missbrauchs erfüllt.

Was ihn besonders berühre, sei die Tatsache, dass Shincheonji vor allem Menschen mit hohen Idealen anspreche, die etwas Gutes für die Welt tun wollten. Dass ausgerechnet diese idealistischen Menschen bei Shincheonji in missbräuchliche Strukturen gelangten, tue ihm auch persönlich sehr leid. Deshalb sei es wichtig, über Shincheonji aufzuklären, damit die Menschen eine Sensibilität für das Phänomen entwickelten. Es gehe nicht darum, die Namen aller Tarnorganisationen von Shincheonji auswendig zu lernen. Aber wenn man von jemandem angesprochen und zu einem Bibelkurs eingeladen werde, bei dem niemand sagt, wozu er gehört, sei es ratsam, sich gründlich zu informieren und zu recherchieren. 

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