Für den Kirchenrechtler Hans Michael Heinig greift die Position der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) zur Friedensethik angesichts des Ukraine-Krieges zu kurz. Erhebliche Teile des kirchlichen Protestantismus seien der Auffassung, man möge lieber auf die rechtserhaltende Gewalt verzichten, kritisierte der Göttinger Jura-Professor.
Polemisch gesprochen sei das "Ponyhof-Theologie", die die Errungenschaften einer menschenrechtlich und demokratietheoretisch aufgeklärten reformatorischen Theologie des Politischen zur Seite wische, erklärte er.
Heinig: Ukrainischer Gewaltverzicht mündet nicht in gerechten Frieden
Und es sei auch inkonsequent, so Heinig, wenn man bedenke, dass sofortiger ukrainischer Gewaltverzicht nicht in einen gerechten Frieden münden würde, sondern in Kolonialisierung, Unterwerfung und kultureller Auslöschung. Er kritisierte:
"Kirchliche Verlautbarungen, die das nicht klar benennen, sondern schlicht zur Mäßigung 'beider Seiten' aufrufen, wirken deshalb in bedrückender Weise zynisch."
Auf die durch den russischen Angriffskrieg in der Ukraine aufgeworfenen Fragen gebe die EKD-Friedensdenkschrift von 2007 kaum sinnvolle Antworten, sagte er. Lese man die Denkschrift, falle ins Auge, wie stark sie unter dem Eindruck des Terroranschlags auf das World Trade Center am 11. September 2001 stehe, sagte Heinig. Es gehe um asymmetrische Kriegsführung, Terrorbekämpfung und menschenrechtlich begründete militärische Interventionen. Vor diesem Hintergrund werde der "gerechte Frieden" zur neuen Leitkategorie ausgerufen.
Heinig sagte dem epd:
"Die Formel diente damals als Kompromissklausel, hinter der sich eine radikalpazifistische Position ebenso stellen konnte wie eine verantwortungsethische."
Völkerrecht "spielt keine Rolle mehr"
Nach dem Erscheinen der Denkschrift habe sich die Rede vom "gerechten Frieden" innerkirchlich auf eigenwillige Weise verselbständigt. Wurde damals noch das Völkerrecht hochgehalten, spiele dies jetzt keine Rolle mehr, kritisierte Heinig.
"Von legitimer, rechtserhaltender Gewalt will man kirchlicherseits nicht mehr viel wissen. Stattdessen ist die Rede davon, dass man sich im Krieg stets schuldig mache, weshalb dann deutsche Waffenlieferung kritisch bewertet werden",
so Heinig. Beispielsweise hatte sich der EKD-Friedensbeauftragte und mitteldeutsche Landesbischof, Friedrich Kramer, wiederholt gegen Waffenlieferungen ausgesprochen.
Legitime Gewalt?
"Dabei ist es doch nach evangelischem Verständnis gerade das Verstricktsein des Menschen im Bösen, was die rechtserhaltende Gewalt zunächst einmal auf den Plan ruft", betonte Heinig:
"Sicherlich: auch bei der Ausübung dieser Gewalt entkommt der Mensch nicht dem möglichen Schuldigwerden."
An der Stelle beginne eigentlich erst die Arbeit an einer konkreten Ethik des Politischen, die Kriterien wie ein Übermaßverbot und legitime Ziele wie der "gerechte Frieden" für Gewaltanwendung herausarbeiten müsse.
Bedford-Strohm: Evangelische Friedensethik weiterentwickeln
Der ehemalige Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), Heinrich Bedford-Strohm, fordert indes eine Weiterentwicklung der evangelischen Friedensethik. Die Orientierung am "gerechten Frieden" bleibe auch jetzt richtig, heißt es in einem Gastbeitrag des bayerischen Landesbischofs für die "Herder Korrespondenz" (Mai). Es bleibe auch richtig,
"dass wir uns damit von der 'Lehre vom gerechten Krieg' verabschiedet haben. Denn Krieg ist immer eine Niederlage."
Militärische Gewalt sei nie "'gerecht', sondern schrecklich", fügte der Sozialethiker Bedford-Strohm hinzu. Aber es könne eben auch Situationen geben, wo der Verzicht auf sie noch schrecklicher ist, Der gemeinsame Wunsch, dem Leiden endlich ein Ende zu setzen, verbinde alle Positionen. Zu deutlich sei die Einsicht, dass Gewalt nie Frieden schafft, sondern bestenfalls Räume dafür wieder öffnen kann, dass er sich entwickeln kann.
Friedensethik im Dilemma
Allerdings habe die evangelische Friedensethik nie eine unpolitische Ausprägung entwickelt, die sich den "Dilemmafragen" konkreten politischen Handelns einfach entziehen würde, entgegnete Bedford-Strohm auf entsprechende Kritik:
"Während die Kriterien für den Einsatz militärischer Gewalt in der evangelischen Friedensethik längst entwickelt waren, sind die Konsequenzen nach dem russischen Angriff auf die Ukraine neu zu bedenken."
Nach wie vor bleibe "die drastische Unterfinanzierung ziviler Möglichkeiten, menschliches Leben zu retten, ein moralischer Skandal", kritisierte Bedford-Strohm: "Noch immer sterben jeden Tag weltweit um die 20.000 Menschen, weil sie nicht genug Nahrung oder Medizin haben." Es sei zu befürchten, dass die Zahl nach Pandemie und Ukraine-Krieg sogar wieder wächst.
Schon allein, um zukünftigen gewaltsam ausgetragenen Konflikten präventiv zu begegnen, müsse die "Absurdität der Ressourcenverteilung" zwischen Aufwendungen für Rüstung und Aufwendungen für menschliche Entwicklung von den Kirchen immer wieder thematisiert werden, erklärte der Landesbischof. Jeder Mensch verdiene den Schutz vor brutaler militärischer Gewalt.
"Aber nicht weniger verlässlich verdient er den Schutz seines Lebens durch die notwendigen Mittel zur Erfüllung seiner Grundbedürfnisse wie Nahrung und Medizin, um so ein Leben in Würde führen zu können."