"Putinversteher" ist ein verächtlicher Begriff für Personen, die versuchen, sich in den russischen Staatschef hineinzuversetzen. Man muss jetzt aber angesichts des Einmarschs russischer Truppen in die Ukraine diesen Perspektivenwechsel vornehmen. Putin ist leider eine Tatsache. Und der muss man ins Auge sehen.

NATO-Erweiterung kann Russland nicht gefallen

Die Grenzen der NATO haben sich nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion immer weiter in Richtung Russland verschoben. Sicher, das geschah durch die freie Entscheidung souveräner Staaten. Auch die Regierung der Ukraine näherte sich dem Westen aus freien Stücken an. Das alles rechtfertigt auch keinesfalls den blutigen Angriffskrieg Putins; dieser ist aber in der Argumentation der russischen Regierung eine Konsequenz aus der gefühlten strategischen Bedrohung durch die NATO und die USA.

Dazu gehören Waffenlieferungen an und Truppenübungen in der Ukraine im Vorfeld des Konflikts. Martin Tontsch, Referent für konstruktive Konfliktbearbeitung bei der kirchlichen Stelle "kokon", bringt es im Sonntagsblatt-Gespräch auf den Punkt:

"Wenn ich Russe wäre, dann sähe ich ungern Panzer der NATO an den Grenzen meines Landes stehen."

Putin ist ein kalter Krieger

Der bald 70-jährige Putin und seine geopolitischen Überlegungen sind Relikte des Kalten Kriegs. Sanktionen sind notwendig, aber mit dem Aussetzen der Ostsee-Pipeline Nordstream 2 wird man dem Tyrannen nicht beikommen. Auch wenn unter den derzeitigen Bedingungen ein solches Projekt undenkbar scheint – man hätte sich das vorher überlegen müssen. So liegt ein elf Milliarden Dollar teures Stück Stahl unbenutzt auf dem Meeresgrund. Putin interessiert das wenig. Nordstream 1 läuft ja auf vollen Touren. Wäre es nicht konsequent, diesen Hahn endgültig zuzudrehen?

Es ist auch falsch, jetzt noch Waffen in die Ukraine zu schicken, auch wenn es nur Verteidigungswaffen sind. Eine abschreckende Wirkung haben sie wohl nicht mehr, sie werden aber den Konflikt verlängern und das Leid vergrößern.

Beten, hoffen – und verhandeln

Was können Christen tun? Beten, aber auch hoffen: nicht nur auf Gott, sondern auch auf den gesellschaftlichen Transformationsprozess, in dem die derzeitige Krise ein hoffentlich letztes Aufbäumen der Denke hinterm Eisernen Vorhang ist.

Sigmar Gabriel hat einmal gesagt:

"Lieber 100 Stunden umsonst verhandeln als eine Minute schießen."

Auch wenn schon viel zu lange geschossen wird: Die deutsche Regierung muss weiter deeskalierend auf den Nachbarn im Osten hinwirken, der uns in historischer wie religiöser Hinsicht nahesteht.