Wenn der emeritierte Theologieprofessor Jürgen Moltmann (95) über seine evangelische Kirchengemeinde spricht, gerät er ins Schwärmen. Als er durch seinen letzten Umzug zur Jakobuskirche in der Tübinger Altstadt kam, übernahm gerade ein neuer Pfarrer die eingeschlafene Gemeinde.

Nur etwa 20 vorwiegend ältere Menschen besuchten den sonntäglichen Gottesdienst. Der Gemeinderat fasste also einen Beschluss:

"Ziel aller Bemühungen soll sein, dass möglichst viele Menschen durch eine einladende Gemeinde zu einem persönlichen Verhältnis zu Jesus als dem Christus gelangen."

Diese Vision wurde durch Regeln realisiert: 1. Anerkennung des allgemeinen Expertentums jedes und jeder Gläubigen, 2. Was nicht einfach geht, geht einfach nicht, 3. Was nicht regelmäßig geschieht, wird in der Regel mäßig, 4. Wer zum ersten Schritt einlädt, muss auch den zweiten gehen.

Wundersames Wachstum der Gemeinde

Mit diesem Leitbild und den vier Regeln begann das wundersame Wachstum der Gemeinde. Die Gottesdienste der Jakobuskirche sind überfüllt. "Heute muss man rechtzeitig vor dem Gottesdienst kommen, um noch einen Platz in der Kirche zu finden, und das ist einmalig, sogar in Tübingen", so Moltmann.

Was ist dort passiert? Moltmann:

"Das innere Geheimnis dieser Gemeinde ist: Gemeinschaft. Sie besteht aus mehr als 20 Hauskreisen mit verschiedenen Zielen. Diese präsentieren sich regelmäßig in den Gottesdiensten. Aus einer Betreuungskirche wurde eine Beteiligungsgemeinde."

20 Hauskreise in einer Gemeinde? Das klingt tatsächlich nach Leben, Wachstum, Glaubensfreude. In der Auferstehungskirche in Puchheim bei Fürstenfeldbruck gibt es immerhin zwei Hauskreise, und damit liegt die Gemeinde wahrscheinlich über dem bayernweiten Durchschnitt.

Der Puchheimer Hauskreis

Der offene Hauskreis der Gemeinde trifft sich in einer Reihenhaussiedlung beim Ehepaar Kaffer. Am Tisch in der gemütlichen Wohnzimmerecke sorgen zwei Kerzen für eine besinnliche Stimmung.  Monika Kaffer hat Wasser, Salzgebäck und Schokoladenkekse bereitgestellt. Die 57-Jährige bildet zusammen mit ihrem Mann Lui (65) das Rückgrat des Puchheimer Hauskreises.

Fünf bis sechs Personen treffen sich dort einmal im Monat immer mittwochs um 20 Uhr – seit Juni vergangenen Jahres wieder in Präsenz. Sie sind zwischen Mitte 40 und 70 Jahre alt, arbeiten als Steuerfachgehilfin, kaufmännische Angestellte, medizinisch-technische Assistentin, Elektroingenieur und Mitarbeiterin am Japan-Institut.

Angefangen hat es mit einer CVJM-Sommerfreizeit vor 22 Jahren. Daraus entstand ein Hauskreis, der dann irgendwann bei der evangelischen Kirchengemeinde andockte. "Der Pfarrer hatte nichts dagegen, er kam sogar einmal vorbei", erinnert sich Monika Kaffer. "Gut war es, dass im Gemeindebrief auf den Hauskreis hingewiesen wurde, damit waren wir ein Teil der Gemeinde und offen für neue Mitglieder.

Erste Runde: Ankommen

"Ankommen" nennt sich die erste Runde. "Wie geht es euch, was beschäftigt euch gerade so?" Lui Kaffer findet diese Runde wichtig, weil man ja seine persönliche Situation nicht an der Garderobe abgibt. Auch am Ende der Abende wird es dann noch einmal ganz persönlich, wenn Gebetsanliegen für die kommenden Wochen angesprochen werden. Ein Teilnehmer versorgt seine Eltern und seine Schwiegereltern und kämpft derzeit selbst mit gesundheitlichen Problemen. Der Kreis betet für seine Gesundheit und dass er die nötige Kraft findet für alles.

"Das Gebet füreinander bewirkt etwas", das haben wir in unserem Kreis vielfach erfahren", bekräftigt Lui Kaffer. Oft sind es alltägliche Dinge, um die gebetet wird: dass ein Kind gut durch die Matheprüfung kommt, dass der erste Tag an der neuen Arbeitsstelle gut verläuft, dass die Operation am Knie gelingt. "Man steht nicht allein, wenn man weiß, dass für einen gebetet wird", sagt Kaffer.

Monika Kaffer mag an ihrem Hauskreis, dass es persönlicher zugeht als im Gottesdienst.

"Man steht füreinander ein", sagt sie und sie weiß auch: "Es ist ein Trugschluss, dass man dafür fromm sein muss."

Aus ihrer Erfahrung kennt sie die Berührungsängste, die es gegenüber Bibelkreisen gibt, manchmal auch eine gewisse Angst vor Verbindlichkeit. Wenn sie neue Leute einlädt, lässt sie zwei Antworten nicht gelten: "Aber ich kenn’ mich doch in der Bibel gar nicht aus" und "Ich habe keine Bibel". Na und? In beiden Punkten kann man Abhilfe schaffen. Für Monika Kaffer geht es um den Glauben im Alltag:

"Wie schaffen wir es, dankbarer und damit glücklicher durchs Leben zu gehen? Wie sieht Nachfolge Jesu konkret aus?"

Auch in seiner Firma gehört Lui Kaffer einem kleinen Kreis von Kollegen an, die ebenfalls in verschiedenen Gemeinden engagiert sind. Man trifft sich regelmäßig zum Mittagessen, tauscht sich aus und betet füreinander und für die Firma. Diese Kollegen sind füreinander Anlaufstelle für Sorgen und Nöte. Es kann sehr konkret werden: Als einmal ein Arbeitskollege Stress hatte, sagte er zu ihm: "Ich denke an dich." "Der Kollege wusste damit, dass ich für ihn bete", sagt Kaffer.

Zehn Jungfrauen machen Probleme

Zwischen der Ankommensrunde und der Gebetsgemeinschaft geht es in Puchheim immer um die Bibel. Der Kreis hat über mehrere Monate den Brief des Paulus an die Epheser besprochen, dann die Gleichnisse Jesu. "Die zehn Jungfrauen machten uns Probleme", erinnert sich Lui Kaffer. Der Support von außen ist bei der Themenfindung wichtig. Mal nehmen sie Material vom Nürnberger Amt für Gemeindedienst, mal sind es Impulse der Aktion 7 Wochen Ohne. Im Januar hat sich bewährt, die Jahreslosung im Kontext zu lesen.

Meist sind es ganz ähnliche Fragen, mit denen der Kreis den Texten zu Leibe rückt: Was bedeutet der Text für uns als Gemeinde und für mich persönlich? Wozu fordert er mich heraus? Welche Fragen bleiben offen? Was möchte Gott von uns? Welches Wort nehmen wir mit in unseren Alltag? Wo möchte ich im Alltag dranbleiben? Wo möchte ich mein Handeln verändern?

 "Die Gemeinschaft im Gottesdienst ist mir zu wenig" 

Für Michael Deutrich gehören Hauskreise notwendigerweise zu einer lebendigen Kirchengemeinde. "Die Gemeinschaft im Gottesdienst ist mir zu wenig", bekennt der 59-Jährige. "Da findet meist kein Austausch statt, da gibt es keine Gelegenheit, Fragen zu stellen und in ein Thema einzutauchen." Ihm ist die Nähe zu Mitchristen wichtig.

"Der Austausch im Bibelkreis verstärkt den eigenen Glaubensweg", weiß er.

Deutrich war lange Zeit Mitglied des Puchheimer Gesprächskreises, heute ist er im Kirchenvorstand der Zachäuskirche in Gröbenzell die Ansprechperson für die Hauskreisarbeit. Dort gab es einmal fünf Hauskreise, nur zwei davon sind übrig geblieben. Zwei- bis dreimal im Jahr haben die Hauskreise den Gottesdienst gestaltet. "Das wurde dankbar angenommen", erzählt Deutrich, der als Notar arbeitet.

Doch zwischen den Zeilen hört man bei ihm heraus, dass er sich mehr Interesse für die Hauskreisarbeit wünschen würde. Er hält Hauskreise "für die Gemeindeentwicklung unheimlich wichtig". Er schätzt dabei "die gemeinschaftliche Suche nach Gott" und sieht darin "ein Stück Urgemeinde", wie sie im zweiten Kapitel der Apostelgeschichte beschrieben ist.

Ökumenisches Denken im Hauskreis

Die Puchheimer finden es bereichernd, wenn im Hauskreis ökumenisch gedacht wird. In ihrem Hauskreis werden auch ganz verschiedene Bibelübersetzungen verwendet. Neben der Lutherbibel sind das die Einheitsübersetzung, die Elberfelder Bibel und die zeitgemäße Übertragung "Hoffnung für alle". Schon beim Reihum-Lesen des Texts gibt es wegen der unterschiedlichen Übersetzungen oft die ersten Diskussionen.

Da auch Katholiken dabei sind, wird immer wieder kontrovers über die konfessionellen Unterschiede diskutiert, zum Beispiel bei den Themen Marienverehrung und Heiligenverehrung.

"Zu Maria beten, da kann ich nicht mit, sagt die Protestantin Monika Kaffer. "Aber ich muss es nicht verurteilen."

Der Puchheimer Hauskreis versteht sich als enge Gemeinschaft, will aber natürlich immer für neue Mitglieder offen sein. Was sie sich für die Zukunft wünschen? Dass sich in den Kirchengemeinden wieder mehr Menschen in Gesprächsgruppen zusammenfinden. Michael Deutrich tat es in der Seele weh, als in Gröbenzell eine 20-Jährige neu hinzugezogene Frau vergeblich auf der Suche nach einem für sie passenden Gesprächskreis war. "Die hätte eine Gruppe von Gleichaltrigen gebraucht, aber da war nix."

Aber wo nichts ist, kann ja noch etwas werden. Deutrich ist jedenfalls optimistisch, dass es immer wieder zu geistlichen Aufbrüchen kommt und neue Hauskreise entstehen.

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