Die Bibel gibt Orientierung und Halt für das Leben – und darüber hinaus. "Wer die Bibel ernst nimmt, muss sich auch vor Widersprüchen nicht fürchten", sagt die EKD-Ratsvorsitzende Annette Kurschus, Aufsichtsratsvorsitzende der Deutschen Bibelgesellschaft.

Wie muss ich die Bibel lesen? Muss ich sie Wort für Wort ernst nehmen?

Annette Kurschus: Unbedingt! Die Bibel soll ich Wort für Wort lesen. Fleißig, aufrichtig. Mit wachem Geist und offenem Herzen. Gerade weil ich sie ernst nehme, werde ich zu bestimmten Lesekriterien gelangen.

Nämlich zu welchen?

Die Bibel ist ein heiliges Buch. Sie erzählt von Gottes Geschichte mit den Menschen und von dem, was Gott mit uns vorhat. Aber sie ist nicht vom Himmel gefallen. Sie ist nicht aus einem Guss. Die Bibel ist eine Sammlung von sehr unterschiedlichen Glaubenszeugnissen.

Worin zeigen sich diese Unterschiede?

Wer die Bibel aufmerksam liest, wird sie unwillkürlich bemerken. Die Unterschiede fangen schon damit an, dass es verschiedene Schöpfungsberichte gibt. Wir lesen unterschiedliche Schilderungen der Geburt Jesu. Sehr vielfältig auch die Berichte von seiner Auferstehung. Es finden sich in der Bibel verschiedene Sichtweisen von Gott: Da begegnet uns der liebende, der zornige, der allmächtige, der leidende Gott. In der Bibel gibt es Spannungen, Widersprüche, Reibung. Und manches Geheimnisvolle.

Was in der Bibel steht, muss also nicht unbedingt wahr sein?

O doch, es ist wahr! Aber nicht im Sinne einer Reportage oder Dokumentation. Da hat niemand die Kamera draufgehalten oder ein Mikrofon. Die biblischen Erzählungen wollen die Wirklichkeit nicht exakt abbilden. Menschen erzählen davon, wie ihnen Gott begegnet ist. Oft tun sie das in Bildern oder Gleichnissen. Sie erzählen von dem, was ihnen Maßstäbe für ihr Leben gegeben hat; Kraft und Hoffnung auch über den Tod hinaus. Aus ihren Lebenszusammenhängen erzählen sie – zum Beispiel als Fischer, Zöllner, Mutter oder Witwe. Sie erzählen jeweils in einer bestimmten Zeit und in einer konkreten Situation.

Wenn die Erlebnisse und Schilderungen so unterschiedlich sind, wie kann die Bibel dann heute Orientierung und Wegweisung geben?

Es kommt darauf an, die ursprüngliche Absicht eines Textes zu erfassen: Was hat der Schreiber des Textes damals sagen wollen, und warum war es ihm wichtig? Wo war der "Sitz im Leben"? Wenn ich dem auf die Spur komme, kann der Text auch heute lebendig zu mir sprechen.


Ich kann die Bibel demnach nicht unmittelbar auf heute übertragen? 

Doch, genau das muss ich tun: die biblischen Aussagen auf die heutige Zeit, auf heutige Lebensumstände, auf mich persönlich übertragen. Aber wirklich übertragen. Hinübertransportieren. Und nicht eins zu eins übernehmen. In Wirklichkeit tut das auch niemand; nicht einmal diejenigen, die es von sich behaupten. Schauen Sie sich doch beispielsweise mal die Reinheitsgebote und Speisevorschriften an. Oder den Umstand, dass Sklavenhaltung oder Steinigung für selbstverständlich gehalten werden.


Man muss die Bibel also quasi mit jedem Lesen neu übersetzen ins eigene Leben – wird damit nicht der Beliebigkeit Tür und Tor geöffnet?

Das ist die Befürchtung, die viele haben. Es gibt eine tiefe Angst davor, auf den falschen Weg zu geraten. Und die Sehnsucht nach dem einen richtigen Weg ist groß. Wir alle sehnen uns nach Sicherheit. Aber der Glaube mutet uns die Erkenntnis zu: Die Wahrheit ist nicht einfach. 

Klingt nach Arbeit.

Je nachdem. Manche biblische Texte wirken aus sich heraus, ganz unmittelbar gehen sie ins Herz. Etwa die Geschichte vom verlorenen Sohn. Mit anderen Texten müssen wir regelrecht ringen und können sie auch dann kaum annehmen. Wer könnte etwa die Offenbarung des Johannes beim ersten Lesen verstehen? Es gibt Texte, die muss ich kauen, immer wieder kauen. Mit so mancher Bibelstelle werde ich wohl mein ganzes Leben lang nicht fertig werden: Ich komme in unterschiedlichen Lebensphasen zu ganz unterschiedlichen Auffassungen.

Muss man Theologie studiert haben, um die Bibel verstehen zu können?

Es ist wichtig, dass es theologische Fachleute gibt. Sie helfen dabei, den ursprünglichen "Sitz im Leben" der biblischen Texte aufzuspüren und ins Heute zu übertragen. Aber das tiefere Verstehen der Bibel hängt daran, dass ich mich mit anderen austausche. Diese anderen müssen nicht Theologen sein. Das Gespräch ist wichtig. Dabei höre ich Fragen, Erkenntnisse und Zweifel aus einem anderen Mund. Was mir hilft, kann ich mir nicht selber sagen. Trost und Verheißung wollen zugesagt sein.
 

Das Projekt #glaubstdu

 


Gibt es etwas, das mir bei all dem Ringen um das richtige Verständnis einer Bibelstelle Mut machen kann?
Kurschus: Ja. Die Gewissheit, dass Gott selbst es ist, der durch das menschliche Zeugnis zu mir spricht. Die Bibel gibt mir Orientierung und Halt für meinen Glauben, für mein Handeln, für mein Leben.

Darauf hoffe ich auch für mein Sterben. Die Bibel ist so etwas wie eine Schatzkis­te: Ich kann darin immer wieder Neues entdecken, mein Leben lang.


Gibt es so etwas wie einen Kompass für die Bibel?
Kurschus: Den gibt es tatsächlich. Martin Luther hat ihn genannt: was Christum treibet. Mit anderen Worten: was das Evangelium von Jesus Christus zum Leuchten bringt. Wir verstehen die Bibel von Christus her. Das soll für uns der Maßstab sein.


Was heißt das konkret?
Kurschus: Der Kern der biblischen Botschaft heißt: Gott hat sich selbst gegeben, um die Welt zu retten, damit allen Menschen geholfen werde. Daraus folgt: Ich soll ausnahmslos jedem Menschen mit Achtung, Respekt und Liebe begegnen. Das heißt nicht, dass ich alles gutheiße. Auseinandersetzungen darf ich gerade deshalb nicht aus dem Weg gehen. In der tiefen Überzeugung: Kein Mensch ist vor Gott grundsätzlich verloren. Und: Es gibt keine Situation, die vor Gott hoffnungslos ist.