Herr Youkhana, wie schätzen Sie die aktuelle Situation im Irak ein?

Youkhana: Es ist eine gute Nachricht, dass die Gebiete, die der IS besetzt hat, nach und nach befreit werden. Aber den IS militärisch zu besiegen reicht nicht. Die Aufgabe fängt damit erst an. Wir müssen mit den Ursprüngen des Problems fertig werden zusammen mit allen Bevölkerungsgruppen Lösungen finden, die eine gemeinsame Zukunft ermöglichen.

Welches Problem meinen Sie konkret?

Youkhana: Die Diskriminierung bestimmter Menschen. Minderheiten wie Christen und Jesiden werden in Gesetzen, Schulen, Medien und auf der Straße benachteiligt. Wir müssen die Menschen davon überzeugen, dass der Irak die Heimat aller Bürger ist – unabhängig ihrer Religion.

"Wir müssen eine Umgebung schaffen, in der alle in Gerechtigkeit leben"

Wie kann das Vertrauen zwischen den vielen Gruppierungen im Irak wieder hergestellt werden?

Youkhana: Wir müssen Jesiden und Christen davon überzeugen, dass das, was ihnen geschehen ist, nicht wieder passieren wird. Wir müssen die Verfassung, die Gesetze und die Lehrpläne in den Schulen überdenken und eine Umgebung schaffen, in der alle Bürger gleich sind und alle in Gerechtigkeit und Würde leben können. Das ist noch ein langer Weg. Ich sehe die Regierung in der Pflicht. Bisher ist sie aber noch mit den Ergebnissen des Problems beschäftigt und nicht mit seinen Wurzeln.

Wie sollten die nächsten Schritte aussehen?

Youkhana: Auf Regierungsebene gibt es bisher keine klaren nächsten Schritte. Da mache ich ihnr keine Vorwürfe. Für sie hat der militärische Bereich Priorität. Aber sie sollte langsam anfangen, den Wiederaufbau des Iraks zu planen.

Auf kommunaler Ebene gibt es Initiativen von NGOs, Kirchen und Kommunen, die den Vertriebenen dabei helfen, in ihre Heimat zurückzukehren und ihre Häuser wiederaufzubauen. Andere Programme widmen sich dem friedlichen Zusammenleben der verschiedenen Religionen.

Wie sieht die Zukunft der Christen und des Christentums im Irak aus? Emanuel Youkhana, Erzdiakon der Assyrischen Kirche des Ostens und Leiter der christlichen Hilfsorganisation CAPNI, ist voller Hoffnung.

Was tun die Kirchen im Irak?

Youkhana: Die Kirche ist überlastet. Die Menschen erwarten von den Kirchen nicht nur spirituelle Führung, sondern auch materielle Unterstützung. Die Kirchen tun ihr Äußerstes, aber sie haben nur eingeschränkte Ressourcen. Wir bitten deshalb unsere Schwesterkirchen und vor allem die europäischen Staaten, uns mit einem Mini-Marshallplan zu unterstützen.

Sie selber sind Direktor der christlichen Hilfsorganisation Christian Aid Program for Northern Iraq (CA PNI). Woran arbeitet die?

Youkhana: Unser Programm soll alle Hilfsbedürftigen erreichen – egal ob Christen, Muslime oder Jesiden. Zu Beginn der Krise haben wir alle Mittel darauf verwendet, bei der Umsiedlung zu helfen und in den Flüchtlingslagern Essen, Hygieneartikel und Kleidung zu verteilen. Aber im Lauf der Zeit haben wir nachhaltigere Programme etabliert, Schulen eingerichtet und mobile Kliniken geschaffen. Wir bieten außerdem Kurse, in denen wir Menschen beibringen, wie sie selber Lebensmittel anbauen können.

Bisher haben wir uns auf die Geflüchteten konzentriert, aber jetzt wollen wir verstärkt auch Rückkehrer unterstützen. Wir helfen ihnen, Häuser und Schulen wiederaufzubauen. Aber wir wissen: Die Menschen wurden zwar über Nacht vertrieben, doch die Rückkehr wird mehrere Jahre dauern. 

"Während viele andere Mauern bauen, kann die Kirche Brücken bauen"

Wollen die christlichen Flüchtlinge überhaupt zurück ins Land?

Youkhana: Wir hoffen, dass Christen im Irak bleiben. Diejenigen, die innerhalb ihres Landes vertrieben wurden, würden sehr gerne zurück in ihre Heimatstädte. Sie haben sogar schon damit angefangen. Mehr als 500 Familien sind nach Telskuf, rund 100 Familien nach Karakosch im Norden des Landes zurückgekehrt. Es ist nicht einfach für sie, zurückzukommen. Ihre Heimat wurde vom IS drei Jahre lang besetzt, ihre Häuser sind kaputt oder abgebrannt. Die ganze Infrastruktur muss wiederhergestellt werden. Diejenigen, die in andere Länder wie in die Türkei, Libanon oder Jordanien geflüchtet sind, warten auf Rücksiedlungsprogramme. Das klappt in vielen Fällen gut, andere haben das Gefühl, die Tore seien verschlossen.

Warum sind Christen für den Irak so wichtig?

Youkhana: Das Christentum existiert dort seit 2000 Jahren. 2000 Jahre gab es eine lebendige Kirche, 2000 Jahren haben wir einen gesellschaftlichen Mehrwert geliefert. In Zukunft werden wir noch mehr gebraucht. Während viele andere Mauern bauen, kann die Kirche Brücken bauen. Während viele Hass predigen, kann die Kirche Frieden und Liebe predigen.

Welche Rolle können Christen in einem neuen Irak spielen?

Youkhana: Wir können vielleicht nicht die christliche Demografie im Irak wiederherstellen. Nur noch etwa drei Prozent der Iraker sind Christen. Aber wir müssen in der Gesellschaft wieder präsent werden. Vor dem Krieg haben wir die besten Schulen und die beste Bildung angeboten – und zwar für alle, nicht nur für Christen. Wir haben die besten Krankenhäuser und Gesundheitszentren betrieben. Diese Institutionen müssen wir wieder aufbauen. Wir haben viel zu tun und viel zu geben.

Hintergrund: CAPNI und die bayerische Landeskirche

Das christliche Hilfswerk CAPNI wurde 1993 von Archimandrit Emanuel Youkhana zusammen mit anderen Christen im Nordirak gegründet. Seit mehr als 20 Jahren unterstützt die bayerische Landeskirche die Organisation. Die in den vergangenen drei Jahren bereitgestellten insgesamt knapp 2,4 Millionen Euro fließen zum einen in die Nothilfe. Unabhängig ihrer Religion werden unter anderem Rückkehrer mit dem Nötigsten ausgestattet und Schulbusse finanziert. Zum anderen fördert die Landeskirche das christliche Leben im Irak. Mit dem Geld wird beispielsweise der Druck liturgischer Literatur oder der Bau eines überkonfessionellen kirchlichen Zentrums finanziert.