Maria Listru wird als junges Mädchen von ihrer armen Mutter der älteren, kinderlosen Witwe Tzia Bonaria Urrai übergeben. Diese als fillus de anima (Seelenkinder) bekannte Tradition spiegelt einen sardischen Brauch wider, bei dem ein Kind informell adoptiert wird, um ihm eine bessere Zukunft zu ermöglichen. Tzia Bonaria, geheimnisvoll und mütterlich zugleich, wird für Maria zu einer zweiten Mutter. Sie schenkt ihr ein Leben voller stiller Würde, das jedoch von einem großen Geheimnis überschattet wird.

Mit der Zeit beginnt Maria zu ahnen, dass Tzia Bonaria eine dunkle Rolle in der Gemeinschaft spielt. Die Witwe ist eine Accabadora, eine Figur der sardischen Kultur, die Sterbehilfe für unheilbar Kranke leistet. Hin- und hergerissen zwischen ihrer Zuneigung zu Bonaria und dem Schock über deren Handeln, gerät Marias Welt aus den Fugen, als die Wahrheit ans Licht kommt.

Die daraus resultierenden moralischen und emotionalen Konflikte treiben Maria auf eine Reise der Selbstfindung und zwingen sie, sich mit den grundlegenden Fragen von Leben, Tod und persönlicher Entscheidungsfreiheit auseinanderzusetzen.

"Accabadora" ist ein brillantes Werk über Moral, Liebe und das Gewicht von Traditionen, das mit einer bemerkenswerten Sensibilität für die Komplexität menschlicher Beziehungen erzählt wird.

Eine große Autorin

Michela Murgia schreibt sehr prägnant, ihr Roman ist von einer stillen Kraft durchdrungen, die die Landschaft Sardiniens widerspiegelt. Wie keine andere fängt sie die Feinheiten menschlicher Interaktion und das Gewicht kultureller Traditionen ein.

Murgia stammt aus Cabras auf Sardinien, wo sie 1972 geboren wurde, und hat ihre intime Kenntnis der sardischen Kultur und ihrer Bräuche in ihr literarisches Werk einfließen lassen. Der Roman ist sehr lokal verwurzelt und doch universell zugänglich. Leider fand Murgias Leben im Jahr 2023 im Alter von 51 Jahren ein tragisches Ende, doch ihre literarischen Beiträge - allen voran "Accabadora" - sichern ihr einen festen Platz unter den wichtigsten zeitgenössischen Stimmen Italiens.

Dieser Roman ist nicht nur eine Hommage an die sardische Kultur, sondern auch eine Meditation über die Entscheidungen, die uns als Individuen und als Gemeinschaft formen. Ein außergewöhnliches Buch, das seinen Platz unter den herausragenden Beispielen moderner europäischer Literatur mehr als verdient.

Reste

Vor dem Hintergrund der Kargheit und Abgeschiedenheit Sardiniens entfaltet sich ein Roman, der die tiefsten Übergänge des Lebens - Geburt, Tod und die Entscheidungen dazwischen - mit großer erzählerischer Eleganz beleuchtet - berührend und aufrüttelnd zugleich.

Murgias Figuren sind bis ins kleinste Detail differenziert, insbesondere die Beziehung zwischen der willensstarken, geheimnisvollen Bonaria und der neugierigen, eigenwilligen Maria. Ihre Verbindung, geprägt von unausgesprochenen Spannungen und tiefen Momenten der Zärtlichkeit, bildet das emotionale Herz des Romans und ermöglicht es den Leser:innen, sich mit größeren gesellschaftlichen Themen auseinanderzusetzen.

 

Michela Murgia (2017): Accabadora, Roman. Verlag Klaus Wagenbach, Berlin. 176 Seiten, 13 Euro.

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