Bittere Armut, Arbeitslosigkeit und Trostlosigkeit – das sind die Kernelemente des Romans "Shuggie Bain", benannt nach seinem Protagonisten, einem Jungen, der mit seiner alkoholkranken Mutter im postindustriellen Glasgow aufwächst.

Shuggie ist anders, sensibel, zart. Doch diese Eigenschaften haben keinen Platz in seiner brutalen Welt der 80er Jahre. Er lebt zunächst mit seinen Eltern, seinem Halbbruder Leek und seiner Halbschwester Catherine bei seinen Großeltern im Zentrum von Glasgow. Shuggies Vater, Hugh Shug Bain, nach dem er auch benannt ist, arbeitet als Taxifahrer und pflegt unter anderem ein Verhältnis zu einer Mitarbeiterin in der Taxizentrale. Seine Mutter Agnes ist zwar bildhübsch, innerlich jedoch zerbrochen und trinkt.

Als Shuggie sechs Jahren alt ist, lädt ihn der Vater mit Mutter und Halbbruder in einer Sozialwohnung in Pithead ab, einem Ort etwas außerhalb von Glasgow, der vor allem von der örtlichen Mine geprägt ist. Shug senior zieht bei seiner Geliebten ein und lässt die Familie im Stich.

Im Abseits

Im Abseits übernimmt der kleine Junge die Fürsorge seiner Mutter, pflegt sie, kauft ein, räumt auf. Klein Shuggie versucht seiner Mutter eine emotionale Stütze zu sein. Als seine Großeltern sterben, versucht Shuggie auch diesen Verlust zu kompensieren. Doch ohne Erfolg. Trotz unzähliger Entzüge und Sitzungen bei den Anonymen Alkoholikern, greift Agnes immer wieder zur Flasche, wird von Liebhabern ausgenutzt und sogar missbraucht. Am Ende versucht sie sich das Leben zu nehmen und muss ins Krankenhaus.

Für den kleinen Shuggie selbst ist in dieser Welt kein Platz. Seine Sanftheit unterscheidet ihn von den anderen Kindern, die ihn als "Schwuchtel" bezeichnen, bespucken, schlagen.

Quasi als letzter Versuch eines Tapetenwechsels ziehen Mutter und Söhne am Ende zurück in die Glasgower Innenstadt. Stadtluft macht frei, denken sie. Es soll ein Neuanfang sein, doch wieder ohne Erfolg. Erst trinkt Agnes wieder, dann schmeißt sie erst ihren ältesten Sohn aus der Wohnung, dann den jüngeren. Abhängig, kaputt, einsam.  

Brutale Realität

Douglas Stuart zeichnet in "Shuggie Bain" ein hartes, aber realistisches Porträt der Arbeiter bzw. Sozialhilfeempfänger Schottlands in den 1980er Jahren, aus dem er selber stammt. Die Kindheit von Shuggie und die Geschichte Agnes sind stark autobiografisch geprägt, auch Stuarts Mutter war alkoholabhängig und starb, als er 16 Jahre alt war.

Ohne Schönfärberei erzählt Stuart in "Shuggie Bain" von den geplatzten Träumen, von unerfüllten Sehnsüchten, von der Flucht in Neid, Klatsch und Alkohol. Dabei ist das realistische Erzählen seine Stärke: die Dialoge im einfachsten Glasgower Dialekt, die krassen Szenen von Gewalt und Sucht. 

Mit teilweise grenzwertiger Brutalität und manchmal skurril schildert er die trostlose Wirklichkeit der Unterschicht. Manchen Kritikern ist das zu unreflektiert, zu naiv, manchen zu kitschig und am Ende kritisieren sie einen gewissen "Voyeurismus." Die Literaturwissenschaft diskutiert gerade hitzig, ob Literatur, die in Form eines Zeugnisses und meist autobiografisch geschrieben ist, unangreifbar erscheint – und doch am Ende banal ist. Ob der Trauma-Plot die Realität verflacht, verzerrt, und die Figuren zu Schablonen ihrer selbst macht.

Dabei erinnert "Shuggie Bain" an "Hillbilly Elegie" oder "Nomadland". Zehn Jahre hat Stuart daran geschrieben, 44 Verlage sagten ihm ab, am Ende wurde er für sein literarisches Debüt mit dem renommierten Booker Price ausgezeichnet.

Mir persönlich hat Douglas Stuart zweiter Roman "Young Mungo" besser gefallen. Obgleich ihn dieselbe Brutalität kennzeichnet, ist er spannender, schneller erzählt und kommt fiktiver daher. "Young Mungo" spielt in Glasgow, aber in den neunziger Jahren. Wieder geht es um den Sohn einer alkoholkranken Mutter. Diesmal aber steht seine erste Liebe im Vordergrund – ausgerechnet zu einem anderen Jungen. In die Trostlosigkeit, in Prügeleien, Misshandlungen und Mord wird nun eine Liebesgeschichte geflochten. Das macht mehr Hoffnung.

 

Douglas Stuart. Shuggie Bain, 496 Seiten, Hanser Verlag 2021, Berlin, 26 Euro.

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