"Ich möchte, dass der Krieg in der Ukraine endet", hat jemand in russischer Sprache auf eine der Tafeln geschrieben. Geantwortet hat der unbekannte Schreiber oder die Schreiberin damit auf die Frage, was möchtest du noch tun, bevor du stirbst.
"Before I Die" ist ein Street-Art-Projekt, das bis November an verschiedenen Stellen in Nürnberg auftauchen wird. Es war schon vor der Agentur für Arbeit, einem Hallenbad, bei Stadtteilfesten und vor Kirchen, an diesem Tag ist es vor der Familienbildungsstätte in Gostenhof aufgebaut.
Dort gibt Hüsniye Gül Asylbewerbern aus Syrien und dem Irak Deutschunterricht. Sie hat ein halbes Dutzend junger Männer zu den drei schwarzen Tafeln des Kunstprojekts geführt. Auf den Tafeln steht in verschiedenen Sprachen der Satzanfang "Before I Die" geschrieben, der die Menschen auffordert, ihn mit ihren Träumen zu beenden.
Die Frage berührt
"Ich möchte meine Kinder wieder sehen", schreibt ein syrischer Mann gerade mit Kreide in arabischer Schrift. Er vermisst seine acht und 13 Jahre alten Kinder, die in Syrien geblieben sind. Der Nürnberger Gründer der Mevlevi-Gemeinde, Süleyman Wolf Bahn, hat ihm zugesehen. Er wiederholt die Worte und einen Satz weiter unten: "Ich möchte meine Mutter noch einmal sehen", Tränen stehen in seinen Augen. "Die Frage berührt, sie ist an die Substanz gegangen", sagt er leise.
Der Rat der Religionen, dem Bahn angehört, ist Schirmherr des Kunstprojekts. Zunächst habe er geglaubt, dass die bunten Kreiden und schwarzen Tafeln mehr Leute anstiften, "Blödsinn" zu schreiben. Aber was die Teilnehmerinnen und Teilnehmer des Projekts in Worte fassen, ist ernsthaft und immer wieder sehr überraschend, berichtet Pfarrer Thomas Amberg, der Leiter des interreligiösen Begegnungszentrums "Brücke-Köprü". Besonders berührt hat ihn eine hebräische Handschrift: "Ich möchte Arabisch lernen."
Nicht nur über Sterblichkeit, sondern auch über Träume nachdenken
Entstanden ist "Before I Die" im Jahr 2011 in New Orleans. Die amerikanische Künstlerin Candy Chang begann es, nachdem eine enge Freundin gestorben war. Seither ist das Projekt durch 78 Länder gegangen. In 36 Sprachen wollte es Menschen animieren, nicht nur über die eigene Sterblichkeit nachzudenken, sondern über die eigenen Träume und Werte. Der Satz "Before I Die" ist auf den Tafeln in acht Sprachen zu lesen: englisch, deutsch, französisch, türkisch, arabisch, persisch, russisch und ukrainisch. Die in Nürnberg lebende persische Künstlerin Marjan Attarzadeh begleitet für die Brücke-Köprü das Projekt. Sie hat die Schriften-Schablonen und T-Shirts zum Motto gestaltet.
Die Kriege in der Ukraine, im Nahen Osten und anderswo, gesellschaftliche Krisen und die Klimakrise machen bewusst, "wir sind verwundbar", sagt Amberg, der das Kunstprojekt nach Nürnberg geholt hat. "Auch als Kirchen haben wird verlernt, die Sterblichkeit im Leben zu sehen." In "Before I Die" könnte ein Schlüssel liegen, ein bewusstes Leben wiederzuentdecken, "was zählt für mich wirklich".
Gerade in der Zeit des Ukraine-Kriegs kommt einem der Satzanfang "Before I Die" ganz nah, meint die Leiterin der SinN-Stiftung und Aussiedlerseelsorgerin Sabine Arnold. Die Frage nach dem Ende des Lebens werde sehr gerne verdrängt, "aber was ist denn eigentlich, wenn mein Leben morgen oder in zwei Stunden vorbei ist?" Sich mit dieser Realität zu konfrontieren, bringe "Tiefe ins Leben, denn sie stellt auch die Frage, was erwarte ich danach".
In den Sommerferien will Arnold das Kunstprojekt mit ihrem Kindertheater-Workshop in Langwasser verknüpfen. Für Kinder hat sie die Frage aber umformuliert. Sie heißt jetzt: "Lass uns träumen."
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