"Du Schl…", "Du Nu…," "Du dummes Stück Sch…" – immer wieder musste sich die 55-jährige Monique diese Worte ihres dritten Lebensgefährten anhören, wenn er wieder betrunken war. Sie hatte sich in einen Hausmeister verliebt und war in seine Wohnung nach Paris gezogen, nachdem sie bereits zwei Männer verlassen hatte, darunter zuletzt Louis Vater. Und doch kam sie wieder vom Regen in die Taufe.
Édouard Louis zweites Buch über seine Mutter beginnt mit einem Hilfe-Anruf nach Athen, wo sich der Autor gerade zu einem Stipendium-Aufenthalt befindet. Wieder wird seine Mutter Opfer häuslicher Gewalt, zittert am Telefon, während ihr Partner sie beschimpft. Doch diesmal will sie endgültig ausbrechen.
Nachdem ihr die Trennung von Louis' Vater gelungen war, die im Mittelpunkt des Buches "Die Freiheit einer Frau" aus dem Jahr 2021 steht, gelingt ihr nun der endgültige Befreiungsschlag. Sie wendet sich an ihren Sohn, packt einige Koffer, ihren kleinen Hund und die wichtigsten Dokumente zusammen und bezieht vorerst seine Wohnung im Herzen Paris.
Schreckliche Details aus Kindheit in Armut
Louis selbst kann nicht direkt nach Frankreich zurückkehren, kümmert sich allerdings herzergreifend mit der Bestellung von Taxifahrten, Essenslieferungen und schließlich mit der Suche nach einer neuen Wohnung in Nordfrankreich in unmittelbarer Nähe seiner Schwester und ihrer Kinder.
Dabei hatte er seit seiner Tätigkeit als Schriftsteller den Kontakt zu seiner Schwester verloren, weil sie ihm die Veröffentlichung vieler, ja schrecklicher Details aus seiner Kindheit in Armut und Elend übelgenommen hatte. Auch die Mutter fühlte sich eine Zeitlang verraten, besuchte sogar eine öffentliche Lesung und trat aus dem Publikum heraus, um ihn mit dem Vorwurf zu konfrontieren, warum er das alles öffentlich gemacht habe und dass er doch einiges missverstanden hätte, "die Dinge ja gar nicht so gemeint waren."
Jetzt aber steht die Familie – zumindest in Form von Sohn, Tochter und Mutter – geeint da. Nichts schweißt so gut zusammen, wie ein äußerer Feind, den die Mutter fortan nur noch "den da" nennen wird. Sie finden eine kleine Wohnung mit Garten, richten sie vollkommen neu ein, darunter mit einem möglichst kleinen Herd, damit Monique nicht wieder in alte Gewohnheiten zurückfällt und für alle kocht ohne an sich zu selbst denken. Gemeinsam kaufen sie Möbel, Elektrogeräte und erkundigen sich nach Kursen an der Volkshochschule.
Nie ein selbstbestimmtes Leben
Dabei blickt Louis noch einmal auf das Leben seiner Mutter zurück, die nie einen Führerschein gemacht hat, nie eine Ausbildung beenden konnte und nicht nur nie ein selbstbestimmtes Leben führen konnte, sondern darüber hinaus auch noch von ihren Ehemännern beleidigt wurde, was am Ende auch auf sie abfärbte – und sich teilweise gegen ihre Kinder richtete.
Louis denkt dabei viel über die Beziehung zu seiner Mutter nach, stellt sich grundlegende Fragen, ob Menschen für so viel Aggressivität die Schuld tragen oder vielmehr die Gesellschaft. Warum er sich plötzlich so für seine Mutter einsetzt? Und schließlich, wie paradox es ist, dass erst die Enthüllung von Elend, Armut und Gewalt in seinen Büchern den Befreiungsschlag seiner Mutter möglich, weil finanzierbar gemacht haben. Und wie vielen Frauen einfach die finanzielle Grundlage dazu fehlt, sich zu befreien.
Am Ende lädt er seine Mutter zur Premiere des Theaterstücks seines ersten Buches über sie nach Hamburg ein. Entgegen aller Zweifel begleitet sie ihn, betritt das erste Mal in ihrem Leben ein Flugzeug, bereist das erste Mal ein "fremdes Land" und geht sogar am Ende mit dem Regisseur auf die Bühne. Dass das Stück auf Deutsch gezeigt wurde, stört sie nicht. Ganz im Gegenteil, sie bittet ihren Sohn um die Fortsetzung, die nun in einem sehr persönlichen, sehr herzlichen Stil mit "Monique bricht aus" vorliegt. Schließlich war die Geschichte mit der Trennung von seinem Vater nicht zu Ende, sondern musste um einen letzten Tiefpunkt erweitert werden – hoffentlich mit endgültigem Happy End.
Edouard Louis: Monique bricht aus, S. Fischer Verlag, 154 Seiten. 22 Euro.
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