"La Merveille", das Wunder, nannten die Mönche den dreistöckigen Gebäudekomplex, den sie Anfang des 13. Jahrhunderts in der Rekordzeit von 25 Jahren auf die Felsen stellten, nachdem eine Feuersbrunst einen großen Teil der Vorgängerbauten eingeäschert hatte. Victor Hugo beschrieb die Klosterburg sechs Jahrhunderte später begeistert als "riesiges schwarzes Dreieck mit seiner Kirchen-Tiara und seinem Festungspanzer. Für das Meer ist der Mont Saint-Michel, was die Cheopspyramide für die Wüste ist." Ein ehrgeiziges Projekt (veranschlagte Kosten: 184 Millionen Euro) stoppt jetzt die Verlandung der Bucht und macht aus dem Glaubensberg allmählich wieder eine richtige Insel.

"Dieses ins Meer gesetzte Märchenschloss!", schwärmte Hugos Schriftstellerkollege Guy de Maupassant und verglich die gigantische Anlage mit einer Farbensinfonie: "Die unendliche Weite des Sandes war rot, der Horizont war rot, die ganze maßlose Bucht war rot; einzig die steil aufragende Abtei, die dort gewachsen war, fern vom Festland, wie eine fantastische Burg, verblüffend wie ein Traumpalast, unwahrscheinlich seltsam und schön, blieb beinahe schwarz im Purpur der Dämmerung. (...) Überrascht, als hätte ich die Wohnstatt eines Gottes entdeckt, irrte ich durch die von leichten oder schweren Säulen getragenen Räume und die von Licht erfüllten Gänge und hob meine bewundernden Augen zu den Fialen, die in den Himmel schießenden Raketen glichen, und zu diesem unglaublichen Durcheinander von Türmchen, Wasserspeiern und entzückenden schlanken Verzierungen empor: Feuerwerk aus Stein, Spitzenarbeit aus Granit, Meisterwerk riesiger und zartester Architektur."

Mont-Saint-Michel: Uralter heiliger Boden

Das Wunder ragt auf einem Bergkegel über einem Inselchen empor, das nur durch einen schmalen Damm mit dem Festland verbunden ist; das umgebende Marschland wird regelmäßig von der Flut überspült. Die Miniaturinsel in der Südwestecke der Normandie – eng an die Bretagne angrenzend – soll früher einmal in einer sumpfigen Waldlandschaft gelegen haben. Häuser, Terrassen, Festungswälle, Abteigebäude türmen sich übereinander, gehen unmerklich in ein eher nüchternes romanisches Kirchenschiff über, auf das verwegene Baumeister einen eleganten gotischen Chor gesetzt haben, dessen Strebebögen, Treppchen und Fialen den Himmel zu stürmen scheinen. Die (seit 1897) von einer goldenen Statue des Erzengels Michael gekrönte Kirchturmspitze zieht den Blick schon aus einer Entfernung von vielen Kilometern magisch an.

Der Berg ist uralter heiliger Boden: Mont Tombe ("Grabhügel") hieß er in den ersten christlichen Jahrhunderten, als man sich noch an die keltischen Druiden erinnerte, die hoch auf den Felsen der aufgehenden Sonne gehuldigt und hier ihre Toten bestattet hatten. Die Römer verehrten an derselben Stelle den Sonnengott Mithras. Die Christen nahmen den alten Kultort sozusagen in Dienst und tauften ihn in ein Heiligtum des zunächst in Byzanz und dann in ganz Europa hoch angesehenen Erzengels Michael um. Das geschah wohl zu der Zeit, als das Meer an der Küste der Normandie immer mehr Land zurückeroberte und Felsen wie den Mont Tombe zu Inseln machte.

Mont-Saint-Michel: Baubeginn im Jahr 708

Die dazugehörige Legende erzählt, Gott habe das Meer beauftragt, die Wälder dort in Besitz zu nehmen und dem heidnischen Götzendienst ein Ende zu bereiten. Michael, Anführer der himmlischen Heerscharen, sollte die Fluten lenken; doch auch sein überheblicher Rivale Luzifer habe die Herrschaft über den heiligen Ort beansprucht. Beide flogen um die Wette zum Mont Tombe. Während Luzifer, von den bizarren Felsformationen irritiert, in eine finstere Waldschlucht stürzte, erreichte Michael sicher den Berggipfel und erschien unverzüglich im Traum dem zuständigen Bischof von Avranches namens Aubert – mit dem Befehl, dort eine Kapelle zu bauen.

Aubert traute dem Traumbild nicht so recht, auch als ihm Sankt Michael ein zweites Mal erschien, zögerte er noch. Beim dritten Mal griff der Erzengel zu drastischen Mitteln: Er berührte Auberts Kopf mit seinem Flammenfinger und brannte kurzerhand ein Loch hinein. Jetzt beeilte sich der Bischof, das Heiligtum bauen zu lassen, im Jahr 708 war das, und wenn jemand an dem Auftrag vom Himmel zu zweifeln wagte, zeigte er ihm seine Wunde. Im selben Jahr erschien übrigens Michaels Erzengelkollege Gabriel weit entfernt in Arabien auf dem Berg Hira dem Kaufmann Muhammad und informierte ihn über seine Berufung zum Propheten. In der Normandie jedenfalls sorgte eine wundertätige Quelle bald für einen Strom von Wallfahrern.

Kirche war Kultort für Kelten und Römer

Sie kamen im langen Pilgermantel aus grober Wolle, breitrandige Hüte auf dem Haupt, sie hatten kleine tönerne Hörner bei sich, in die sie bliesen, wenn der heilige Berg in Sicht kam, und als Andenken nahmen sie Muscheln aus der Bucht, mit Meeressand gefüllte Fläschchen und kleine Amulette aus Blei oder Bronze, die den Drachenbezwinger Michael darstellten, mit in ihre Heimat. Allein im Pilgerjahr 1368/69 beherbergte das Hospiz der Jakobsbruderschaft in Paris exakt 16 690 Wallfahrer, deren Ziel in den allermeisten Fällen der Mont-Saint-Michel war. Im 14. und 15. Jahrhundert, als Kriegsgefahr in Europa drohte, strömten Hirtenkinder und Jugendliche aus Polen, Böhmen, der Schweiz, Flandern, Brabant und Deutschland in hellen Scharen in die Normandie, nach dem Muster der merkwürdigen "Kinderkreuzzüge". Im Jahr 1451 etwa kamen rund 1100 Kinder aus Frankfurt am Main, angeblich auf Geheiß himmlischer Stimmen. Ihre Hymne hieß "In Gottes Namen fahren wir, zu Sankt Michael wollen wir!"

Der Benediktinerkonvent auf dem Saint-Michel erlebte Belagerungen, verheerende Brände und geschäftige Umbaumaßnahmen. Das älteste erhaltene Gebäude ist heute die vorromanische Kirche Notre-Dame-sous-Terre, "Unsere Liebe Frau unter der Erde", die zum Teil das Fundament der späteren Basilika bildet. Eine Zeitlang war der Klosterberg ein Zentrum der Gelehrsamkeit; man nannte ihn "Stadt der Bücher", weil sich in der Bibliothek die kostbaren Handschriften stapelten und von den Mönchen fleißig kopiert und illuminiert wurden.

Klosterfestung: Ehrgeiziges Renaturierungsprojekt

Ende des 18. Jahrhunderts funktionierte man die vom Meer umgebene Klosterfestung zum Staatsgefängnis um. Im Mont-Saint-Michel saßen politische Gefangene ein, eidbrüchige Offiziere, trunksüchtige Priester und arme Verrückte wie ein Domherr aus Bayeux, der die zwanghafte Neigung hatte, Falschgeld zu drucken. Das harte Regiment der Mönche war berüchtigt, und manche Gefangene starben in einem an der Decke aufgehängten Holzkäfig; in der Pariser Bastille war das barbarische Instrument längst abgeschafft worden.

Die zahllosen Touristen – rund 2,5 Millionen pro Jahr – können seit Juli 2014 ganz komfortabel über eine 760 Meter lange und elf Meter breite Stelzenbrücke zum "Glaubensberg" gelangen, zu Fuß über sichere Eichenholzplanken, mit dem Shuttlebus oder ganz nostalgisch mit der Pferdekutsche. Der vom österreichischen Stararchitekten Dietmar Feichtinger entworfene Steg ersetzt den alten Straßendamm aus dem 19. Jahrhundert, der an der Verlandung der Bucht Mitschuld trug, weil er die natürliche Zirkulation des Wassers bremste. Mit dem ehrgeizigen Renaturierungsprojekt gewinnt das mittelalterliche Wunder allmählich seinen maritimen Charme zurück.

Der "Mont-Saint-Michel" kann wieder zur Insel werden

Gründliche Studien, von Frankreich, der Europäischen Gemeinschaft sowie den Regionen Normandie und Bretagne finanziert, empfahlen den Bau einer Stauanlage am Fluss Couesnon, der 2009 abgeschlossen wurde und erfolgreich zur Entsandung der Bucht beiträgt: Durch die hydraulische Kraft des Flusses wird der größte Teil der Sandmassen mit hohem Druck zurück ins Meer geschwemmt, das Wasser in der Bucht steigt und der "Mont" kann wieder zur Insel werden. Raffinierter Nebeneffekt: Die mit dem französischen Grand Prix National für Ingenieure ausgezeichnete Stauanlage dient auch als Aussichtsplattform und hat sich bereits zu einem Besuchermagneten entwickelt.

Die neue Fußgängerbrücke, die zum Renaturierungsprojekt gehört, soll laut Architekt Feichtinger auch ein ganz bestimmtes Bewusstsein bei den Touristen schaffen. Sie erinnere "sowohl an einen Weg als auch an eine Etappe" und bedeute "eine Überquerung, um das ›Woanders‹ am Ende des maritimen Horizonts zu erreichen. Die gesamte Landschaft, Festland und Berg, zeichnet sich durch eine fließende und geometrische Bewegung aus".

Einen spirituellen Anspruch erhebt natürlich auch die kleine benediktinische Gemeinschaft, die auf dem "Glaubensberg" lebt. Unaufdringlich bietet sie den Besuchern, die auf dem Mont-Saint-Michel geistliche Einkehr halten wollen, und den vielen Touristen ihre Gastfreundschaft an, gemäß der Regel des heiligen Benedikt: In jedem Fremdling, der im Kloster einkehrt, soll man Christus sehen.