Eine Frau hat eine Fehlgeburt – und kommt nicht darüber hinweg. Ihr Partner hat aus seiner ersten Ehe eine sechsjährige Tochter. Warum darf diese leben, während das eigene Ungeborene stirbt? Mit ihrem Partner kann die Frau nicht reden, fühlt sich unverstanden, frisst die Trauer und  Wut in sich hinein. Bis alles eskaliert und sie sich die "Seele aus dem Leib kotzt." Erst beim Anblick eines Oktopusses in einem Aquarium schließt die Frau wieder Frieden mit sich , als sie diesen mit Genugtuung dabei beobachtet, wie er seine eigenen Beine verspeist. Absurd?

Literarisches Debüt von Dantiel W. Moniz

Geschichten wie diese, Menschen zwischen den Stühlen, in ihren Alltagswelten, vor der Kulisse Floridas, inmitten einer Welt von Hotels, Drive-In-Kneipen und Shopping-Malls erzählt die amerikanische Autorin Dantiel W. Moniz  in ihrem literarischen Debüt. Der Band bietet eine Sammlung von elf überzeugenden Kurzgeschichten. "Milch Blut Hitze" sind Porträts von Menschen an den kleinen, oft übersehenen Wendepunkten des Lebens. Mögen sie auf den ersten Blick seltsam oder banal erscheinen, so kennen wir sie doch alle und übersehen sie viel zu oft! Denn sie erzählen von Mutter-Tochter-Beziehungen, von der Pubertät und ihren Sehnsüchten, Krankheit, Verlust, Tod, aber auch Neuanfang und dem Moment, wo sich ein Kreislauf schließt, sich alles zum Guten gewendet.
Der Erzählband beginnt mit der Titelgeschichte "Milch, Blut, Hitze."

Darin kokettieren zwei 13-jährige Mädchen mit all den Möglichkeiten, wie sie sterben könnten. Sie sind vom Tod fasziniert. Als sie einen verstorbenen Vogel, einen Rotkardinal, entdecken, beugt sich Kiera "so dicht darüber, dass die Spitze einer abgeknickten Feder fast ihre Nase streif" und ihre Freundin Ava "möchte mit dem Finger über die weichen schwarzen Federn rund um den Schnabel fahren. Sie ist neidisch auf das offene, hohle Auge, die vollkommene Reglosigkeit des kleinen Körpers." Die beiden pubertierenden Mädchen sondern sich ab, vertiefen sich in die Sehnsucht nach dem Jenseits. Bis eine einen Schritt weiter geht.

Kurzgeschichten über die Wendepunkte des Lebens

Die Kurzgeschichte "Zungen" erzählt von der jugendlichen Zeyah, die ihre junge, moderne Lehrerin Frau Adler viel faszinierender findet, als den aufdringlichen Pastor in der New Life First Baptist, wo sie mit ihren Eltern und ihrem Bruder die Kirchenbank drücken muss. Als der besessene Prediger mit seinen antiquierten Vorstellungen merkt, dass das junge Mädchen nicht spurt, wie er es verlangt, beginnt er sie bei ihren Eltern zu denunzieren. Die frommen Eltern zeigen sich schockiert über das Verhalten ihrer Tochter, Zeyah sondert sich ab und wird diffamiert. Am Ende steht das Mädchen, das ihrem Alter weit voraus Bücher über Ausgrenzung und die Gender-Pay-Gap liest, mit einem Benzinkanister vor der Kirche.

In einer anderen fesselnden und wesentlich amüsanteren Geschichte mit dem Titel "Die Herzen unserer Feinde" geht eine Mutter eine  außer-eheliche Affäre ein. Die Teenagerin Margot kann nicht ertragen, was ihre Mutter getan hat. Dabei hat sie selber eine Affäre mit ihrem Französischlehrer, der die Mutter schließlich auf die Schliche kommt.

Wieder eher nachdenklich stimmt die Geschichte zweier Cousinen, die lernen, was passiert, wenn sie mit der sehr realen Möglichkeit des Ertrinkens konfrontiert werden. In "Kein Boden unter den Füßen" vermittelt die Erzählerin den markanten Unterschied zwischen Kindern und Erwachsenen, während sie einen erschütternden Ausflug an den Strand beschreibt. Am Ende stirbt niemand, soviel sei verraten. Aber das schlechte Gewissen nagt an einem der beiden Mädchen:

"Schweigend saß ich neben ihr und malte Kreise in den Sand. Ich wusste nicht, wie ich mein Verhalten erklären sollte – wie es gekommen war, dass ich Terror und Licht in mir hatte, dass ich beides gewesen war, die Ertrinkende und die Welle."

Die Geschichten sind kurzweilig, regen immer zum Nachdenken an, manchmal zum Schmunzeln, gelegentlich wirken sie seltsam  , aber Dantiel W. Moniz schreibt überzeugend authentisch, so aufrichtig und nah an den Menschen, dass man ihr alles abnehmen würde. Sie landet am Ende immer bei einem Bild, das  mit dem Herzen zu greifen ist. Dabei erkundet sie die Schwächen, Ängste und Schamgefühle ihrer Figuren und erzählt von Mädchen- und Frausein, Mutterschaft und Körper, von Rassismus, Liebe und Verlust. Und einmal auch von einem Mann.

Menschen in ihrer Vielfalt, in ihren vielen Facetten zu erkennen: Dieser rote Faden zieht sich durch das ganze Buch. Viel Magie, manchmal ein wenig düster, immer tiefgründiger – ein ideales Sommerbuch einer vielversprechenden Autorin, die erst 1989 in Jacksonville, Florida, geboren ist und als Assistant Professor für Englisch an der University of Wisconsin-Madison tätig. "Milch Blut Hitze" ist ihr Debüt. Ich freue mich auf mehr.