Realengo im Westen von Rio de Janeiro im Sommer 1976: der pubertierende, hellhäutige Camilo wächst behütet bei seinen Eltern auf. Sein Vater ist Arzt, seine Mutter Hausfrau, die von einigen Hausangestellten – wie oft in Brasilien üblich – unterstützt wird. Mal schwimmt Camilo im Pool, obwohl er durch einen Geburtsfehler deutlich eingeschränkt ist, mal muss er angeekelt beim Braten von Rinderzungen zusehen.
Camilos Welt ist klein und geordnet - bis sein Vater den 15-Jährigen, wesentlich dunkelhäutigeren Waisenjungen Cosme mit nach Hause bringt. Wahrscheinlich der Sohn eines Folteropfers, denn sein Vater arbeitet als Arzt für die Militärdiktatur, sein Job ist, Gefolterte am Leben zu erhalten, um noch mehr aus ihnen herauszupressen. Näheres erfahren wir nicht.
Der junge Cosme ist rätselhaft, charismatisch, mit einer Aura der Weltgewandtheit. Zwischen den beiden Jungen entwickelt sich eine enge, intensive Freundschaft, die schließlich in eine romantische Beziehung übergeht.
Dabei gehen die beiden Jugendlichen zwar vorsichtig, aber nicht heimlichtuerisch mit ihrer Liebe um. So zeigen sie sich als Liebespaar in ihrer Clique, halten Händchen und küssen sich. Die Freunde sind zwar etwas überrascht, wenn die beiden miteinander zärtlich werden, aber sie akzeptieren sie und inszenieren sogar eine Hochzeits-Zeremonie.
Dramatische Wendung
Doch die Liebesgeschichte nimmt eine dramatische Wendung, als Camilo und Cosme im Bett erwischt werden. Cosme wird erschlagen – von dem Mann einer Hausangestellten. Die Tat wird nie ausgesprochen, nie offiziell aufgearbeitet – und bleibt doch der zentrale Wendepunkt in Camilos Leben. Ein Schatten, der sich über sein gesamtes Leben legen wird.
Dabei wird die tragische Geschichte aus der Perspektive des 50-Jährigen Camilo erzählt, der sich noch immer sehnt und in einer Mischung aus Scham, Schuld und Liebe zurückblickt.
Zwar lebt Camilo in einer Beziehung mit dem wesentlich jüngeren Rodrigo, einem Mann, der ihm Stabilität und Nähe bietet, aber nicht dieselbe Tiefe wie Cosme. Ihre Beziehung wirkt resigniert, geprägt von Camilos innerer Unruhe und seiner Unfähigkeit, sich ganz zu binden, weil ein Teil von ihm weiterhin in der verlorenen Kindheit festsitzt. Rodrigo repräsentiert das Mögliche, das Reale, Cosme hingegen bleibt das Unerreichbare, das Ideal, das Märchenhafte, die Projektionsfläche aller Sehnsüchte.
Poetische Erzählung
Dabei ist Viktor Heringers Sprache äußerst feinsinnig, bildreich und von poetischer Leichtigkeit. Er beherrscht die Kunst der Andeutung, das Spiel mit der Erinnerung, mit Rhythmus und Emotionalität.
Der Autor selber wurde 1988 in Rio de Janeiro geboren und arbeitete als Künstler, der sich mit verschiedenen Medien und diversen Themen auseinandersetzte. Sein erster Gedichtband "Automatógrafo" erschien 2011, gefolgt von seinem Roman "Gloria" im Jahr 2012. Für Letzteren wurde er mit dem renommierten Prêmio Jabuti ausgezeichnet, was ihn über Nacht in Brasilien bekannt machte.
Der Roman "Die Liebe vereinzelter Männer" erschien im Jahr 2016 im Original, zwei Jahre später nahm sich Heringer im Alter von nur 29 Jahren tragischerweise das Leben. Er litt an Depressionen. Sein Werk, das in der brasilianischen Literaturszene bereits als vielversprechender neuer Ton gefeiert wurde, bleibt unvollständig. Doch "Die Liebe vereinzelter Männer" ist sein Vermächtnis.
Der Roman erinnert an James Baldwins "Giovannis Zimmer"– ebenfalls ein Werk über eine homosexuelle Liebe, deren gesellschaftliche Undenkbarkeit sie ins Tragische kippen lässt. "Die Liebe vereinzelter Männer" ist ebenso leise, aber hallt genauso nach und wirft universelle Fragen auf: über die erste Liebe, Unbeschwertheit, Begehren und Endlichkeit.
Victor Heringer (2024): Die Liebe vereinzelter Männer, März Verlag, 182 Seiten, 24 EUR.
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