Cabras ist ein kleiner Ort auf der italienischen Insel Sizilien. Das Dorf hat nur neuntausend Einwohner und die Wirtschaft beschränkte sich in den 1980er Jahren vor allem auf die Produktion von Lebensmitteln für den eigenen Bedarf. Bauern, Fischer und einige Hirten kommen hier zusammen. Im Mittelpunkt steht die Pfarrkirche Santa Maria.
Fast jeden zweiten Monat finden Prozessionen für die Schutzheiligen statt: Santu Pedru für die Fischer, Santu Sidoru für die Bauern, Santa Lughía für die Maurer und so weiter. Dann werden Fahrgeschäfte und Verkaufsstände aufgebaut und zentnerweise Meeräschen auf dem Marktplatz zubereitet. Ihr herrlicher Duft soll sich sogar bis in die Hauptstadt Cagliari herumgesprochen haben. Abends wird gefeiert, Karussell gefahren und getanzt.
Die drei Murmelbrüder
Im Sommer kommen in Cabras immer die drei Freunde Giulio, Franco und Maurizio zusammen. Letzterer kommt nicht aus dem Dorf, ist aber regelmäßiger Gast seiner dort ansässigen Großeltern und zieht später sogar das ganze Jahr über zu ihnen. Gemeinsam fangen sie Fische und Wasservögel, bauen sich aus alten Styroporkisten Flöße und spielen Murmeln. Manchmal kriechen sie auch in die alten Schächte der Kirche und stecken ausgerechnet die Palme im Zentrum des Kirchplatzes in Brand, um Ratten zu bekämpfen. Eigentlich nicht verwandt, sind die drei "Murmelbrüder", wie man heute sagen würde, "Bros" oder "Soulmates".
Insgesamt geht es harmonisch in Cabras zu. Das Dorf ist eine Gemeinschaft, man versteht sich. Nur wenn die Alten den Kindern abends Schauermärchen erzählen, kommt es zu großer Aufregung, die jedoch am Morgen wieder vergessen ist.
Bis der Bischof eines Tages beschließt, eine zweite Gemeinde samt Kirche im Ort zu gründen. Das spaltet die Bevölkerung und treibt einen tiefen Keil in die Gemeinschaft – auch innerhalb der "Murmelbrüder" bilden sich zwei unversöhnliche Fronten. Giulio und Maurizio halten zur alten Gemeinde, während Franco sich der neuen anschließt – alle drei sind Messdiener.
Zwei Gemeinden streiten um die Heiligenprozession
So kommt es, dass die alte Gemeinde Santa Maria und die neue Gemeinde Sacro Cuore jeweils ein Incontro, die wichtigste Prozession des Jahres, zu den Osterfeierlichkeiten ausrichten.
Das "Incontro", die "Begegnung", war auch für die komplexen religiösen Gewohnheiten der Sarden eine Besonderheit: Anders als bei den üblichen Heiligenprozessionen wurde nicht nur eine Statue durch die Stadt getragen, gefolgt von einer betenden Menschenmenge, sondern es gab zwei verschiedene Standbilder und zwei verschiedene Züge. Einer trug die Statue des gerade auferstandenen Jesus, der sich symbolisch auf die Suche nach seiner Mutter begab. Der andere trug die Statue der Heiligen Jungfrau Maria im Trauerkleid, die dem Sohn entgegenging.
Beide trafen sich traditionell am Rathausplatz von Cabras – doch was nun? Denn nun gab es zwei Gemeinden, die beide darauf bestanden, ihre Prozession abzuhalten, jeweils ein Incontro zu inszenieren und insistierten, sich im Zentrum der Gemeinde zu treffen.
Giulio, Maurizio und Franco lösen das Problem dann eher zufällig und aus Versehen, doch bringt ihre höchst amüsant geschilderte Verwechslung das Dorf wieder zusammen und versöhnt die Gemeinden.
Wundervolles Sommerbuch
Michela Murgia erzählt eine wahnsinnig amüsante Geschichte aus ihrem Heimatdorf. Dabei malt sie ein typisches Bild ihrer Heimat Sardinen, einschließlich seiner christlichen Traditionen, Menschen und Legenden. Dabei sind die "Murmelbrüder" eine wirkliche Wiederentdeckung und neben ihrem weltweit berühmten Roman "Accabadora" höchst lesenswert.
Bedauerlicherweise starb Murgia bereits im Alter von nur 51 Jahren vor zwei Jahren. Ihr Werk bleibt jedoch ein bedeutender Beitrag zur italienischen Literatur und ist ein wundervolles Sommerbuch.
Michela Murgia (2012): Murmelbrüder, Verlag Klaus Wagenbach, Berlin, 111 Seiten.
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