Seit Ex-SPD-Mitglied Thilo Sarrazin vor elf Jahren seinen Bestseller "Deutschland schafft sich ab" veröffentlichte, sind wir Deutschen nicht nur 80 Millionen Bundestrainer*innen, sondern auch 80 Millionen Islam-Expert*innen. Beziehungsweise Islam-Kritiker*innen. Kaum ein Feindbild vereint Menschen mit ansonsten so unterschiedlichen politischen Ansichten wie eine kräftige Dosis vermeintlich gesundes Misstrauen gegen Muslim*innen und ihre Religion. Ja, eine ganze Partei verdankt ihre Anwesenheit im Bundestag eigentlich nur ihrer offen zur Schau gestellten Islamfeindlichkeit. Und selbst unter Menschen, die des Rechtsextremismus gänzlich unverdächtig sind, kursieren viele Vorurteile, Klischees und Halbwahrheiten zum Thema. 

"Muslimaniac" räumt mit Pauschalurteilen und gefährlichem Halbwissen auf

Der Politikwissenschaftler Ozan Zakariya Keskinkılıç räumt mit seinem Buch "Muslimaniac" gründlich mit dieser Mischung aus Pauschalurteilen und gefährlichem Halbwissen auf. Ohne Bitterkeit, dafür mit bissigem Humor und elegantem Sprachwitz seziert er die Faszination, man möchte fast sagen: die Obsession der Deutschen mit dem Thema Islam sachlich und fundiert – und bringt jede Menge Licht ins Dunkle.

Als Ausgangspunkt seiner Analyse wählt Keskinkılıç seine Sicht als selbst von antimuslimischem Rassismus Betroffener. Er zitiert aus Emails und Nachrichten, die ihn über Social Media erreichen, in denen er von den berühmt-berüchtigten besorgten Bürger*innen zum "Pressesprecher der islamischen Welt" gemacht wird. Viele der absurden Inhalte (etwa: "Entschuldigen Sie sich für 9/11!") kennt man aus einschlägigen Kommentarspalten, doch die Vorstellung, so etwas täglich als persönliche Nachricht zu bekommen, schmerzt dann doch. 

Historische Kontinuitäten der Islamfeindlichkeit

"Muslimaniac" bleibt aber nicht bei der Perspektive eines Betroffenen stehen. Keskinkılıç untersucht die historische Vorgeschichte des Feindbilds Muslim*in/Islam gründlich – und fördert dabei viel Interessantes zu Tage. Immer wieder ist auch Kurioses dabei: So kann er beispielsweise nachweisen, dass bereits im Bezug auf deutsche Kolonien von einem angeblich per se rückständigen Frauenbild der islamischen Religion gesprochen wurde – von Männern, die das Wahlrecht für Frauen in der deutschen Heimat jedoch selbstverständlich ablehnten. Die Parallelen zu heute sind unübersehbar.

Weniger kurios, dafür sehr erhellend ist, wie er die Zerrbilder von Muslim*innen in den historischen Kontext von deutschem Rassismus und Antisemitismus einordnet: So sprach der Historiker Heinrich Treitschke schon 1879 von "deutsch redenden Orientalen", und meinte damit die deutschen Jüdinnen und Juden. Keskinkılıç liefert sehr präzise und gut belegte historische Kontinuitäten und weist nach, dass das heutige Zerrbild von Muslim*innen eine sehr lange Vorgeschichte hat – Sarrazin wärmte also eigentlich nur Altbekanntes auf, was vielleicht auch seinen enormen Erfolg erklärt. Nichts glauben die Leute schließlich lieber als bereits bestehende Vorurteile. 

Keskinkılıç verharmlost oder beschönigt nichts

Ein weiterer wichtiger Verdienst von "Muslimaniac" ist, wie der Autor Ressentiments und ihre Vorgeschichte nicht nur benennt, sondern auch ganz konkret widerlegt. Ob die Stellung der Frau, das Verhältnis zum Judentum oder der Umgang mit Homosexualität – Keskinkılıç zeigt, dass die meisten unserer Vorstellungen davon auf geradezu barbarischem Unwissen und einer Fixierung auf einige wenige Sonderfälle beruhen. Diesem verengten, besserwisserischen Blick stellt er eine reichhaltige, diverse und teilweise widersprüchliche Praxis muslimischen Lebens über die Jahrhunderte gegenüber, die viele überraschen dürfte. 

Glücklicherweise tappt der Autor zu keinem Zeitpunkt in eine der bereitstehenden Fallen des Themas: Er verharmlost oder beschönigt keine real existierenden Probleme, er relativiert nirgends Antisemitismus oder den Holocaust, er stellt Muslim*innen auch nicht als arme, bedauernswerte Opfer dar. Vielmehr ist "Muslimaniac" eine großzügige Einladung, sich besser zu informieren über eins der Lieblingsthemen der deutschen Öffentlichkeit – und man kann nur hoffen, dass möglichst viele Leser*innen dieses Angebot annehmen. Es lohnt sich. 

Muslimaniac. Die Karriere eines Feindbildes

Ozan Zakariya Keskinkılıç

Wer denkt, aus "Ausländern" könnten je "richtige Deutsche" werden, irrt sich gewaltig: Es reicht nie, ist die Erfahrung hier lebender Muslime. Brillant und bissig erzählt Ozan Zakariya Keskinkılıç von einer konsequenten Verfremdung und bahnt einen Weg der Annäherung. Egal, ob man in Deutschland geboren wurde und sich überhaupt in jeder Hinsicht integriert: Muslim bleibt immer Muslim – fremd, gefährlich, rückständig. Und als Muslimin ist man entweder unterdrücktes Opfer oder erotische Projektionsfläche.

Verlag: Körber

Seitenzahl: 220

ISBN: 3896842897, ISBN-13: 978-3896842893

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