"Glasgow ist am Ende. Keine Kohle, kein Stahl, keine Eisenbahnindustrie und keine beschissenen Werften." In genau dieses Glasgow, das proletarische East End, wird der junge Mungo hineingeboren. Seine Mutter, je nach Alkoholkonsum mal sanfte Maureen, mal egomane Mo-Maw genannt, ist gerade 34 Jahre alt, alleinerziehend und verwitwet. Mungos älterer Bruder Hamish ist ein brutaler Gangführer, seine Schwester Jodie im permanenten Streit mit der Mutter. Umgeben sind sie von Arbeitslosigkeit, Elend, Sucht und Perspektivlosigkeit. 

Aufgewachsen in einem prekären Familienverhältnis

Mungo, benannt nach dem ersten Bischof Glasgows, ist 15 Jahre alt. Seine Mutter beteuert die Liebe zu ihren Kindern, wirft sich jedoch bei der erstbesten Gelegenheit Männern an den Hals. Vergessen sind dann ihre Kinder, die Schwester muss für Verpflegung sorgen und die Rechnungen bezahlen. 

Dabei gehen die drei Geschwister mit ihrem Elend unterschiedlich um. Jodie jobbt in einem Café und lässt sich auf einen verheirateten Lehrer ein, der ihr das Studium auf der Universität verspricht. Hamish, kleingewachsen, führt sich als starker Mann auf, knackt Autos und raubt Bauhöfe aus, er schürt den Kampf zwischen Katholiken und Protestanten mit seiner kleinen Gang und will Mungo zu einem richtigen "Mann" machen: gewalttätig, rücksichtslos, hart. 

Mungo ist hübsch, aber schwach, leidet, schwankt. Der Teenager sucht nach Harmonie. Sein Gesicht zuckt verdächtig, wenn er lügt. Er hängt an seiner Familie, spielt teilweise mit, schluckt herunter, läuft mit, steckt ein. Schläge, sexuelle Übergriffe, Missbrauch und Ausbeutung sind die Konsequenz - und doch findet er in seiner ersten Liebe einen Ausweg. Eine Befreiung? 

Denn er lernt James kennen, ausgerechnet einen katholischen Jungen, der in einem Verschlag Tauben züchtet und von seinem alleinerziehenden Vater bereits dabei erwischt wurde, Sexhotlines anzurufen. Homosexuelle Hotlines! Denn der Vater arbeitet die meiste Zeit auf einer entfernten Bohrinsel. James ist Mungos Lichtblick. Rettung und Verhängnis zugleich. Das Kennenlernen, die ersten Liebesregungen, sind so sanft, zart und harmonisch, dass sie fast unwirklich erscheinen. 

Horror-Trip mit fatalen Folgen

Wie schwer es Homosexuelle in den Arbeitervierteln haben, zeigt der feingeistige Mr Calhoun. Er wird bespuckt, wenn er sich mit seinem kleinen Hund aus der Wohnung begibt und als Kinderschänder gebrandmarkt. Er zeigt: Mungo und James können sich unmöglich zu ihrer Liebe bekennen. Weder James’ Vater noch Mungos Bruder brächten dafür Verständnis auf. Im Glasgow der 1990er Jahre gibt es "keine größere Schande, als eine Schwuchtel zu sein; machtlos, weich wie eine Frau." 

Doch die Liebe bleibt nicht unerkannt. Ausgerechnet James eigener Bruder droht, den Geliebten umzubringen. Um Abstand zu finden, schickt Mo-Maw ihren Jüngsten mit zwei Kollegen von den Anonymen Alkoholikern auf ein Campingwochenende, weit draußen vor den Toren Glasgows, an einen einsamen See zum Angeln. Doch aus der Auszeit wird ein Horror-Trip - mit fatalen Konsequenzen.

"Young" Mungo wechselt zwischen dem schrecklichen Ausflug und dem romantischen Kennenlernen der beiden Jungen hin und her. Der Roman ist großartig geschrieben, voller Spannung. Bis zur letzten Seite bleibt offen, ob die Liebe, ob das Leben des jungen Mungo eine Chance haben.

Drastisch, dramatisch, kontrastreich

Der Roman ist drastisch, kontrastreich, familiäre Abgründe spiegeln sich mit Beschreibungen der wunderschönen ersten Liebe. Der Roman ist voller Abgründe, es ist nicht leicht zu ertragen, was Mungo erleiden muss. 

Von der Kritik wird "Young Mungo" teilweise sehr negativ gesehen. Das Debutwerk Douglas Stuarts "Shuggie Bain" war von der Kritik gefeiert und in viele Sprachen übersetzt worden. Auch das Erstlingswerk erzählt die Geschichte eines Jungen, der unter höchst prekären Verhältnissen aufwächst, jedoch im Glasgow der Margaret-Thatcher-Ära, also vor "Young Mungo." Mit seinem zweiten Roman knüpft Stuart daran an und schreibt unverkennbar dessen Themen und Erzählweisen fort. Doch viele Kritiker sehen darin nun "zuviel des Guten."

Stuart wird vorgeworfen, mit "fast pornografischer Lust, das Unterste einer Gesellschaft hervorzukehren", es mit dem "extensiv ausgebreiteten Leid" zu übertreiben. "Young Mungo" wird vielfach als "Trauma-Porno" abgelehnt. 

Nun gut, drastisch, dramatisch, kontrastreich ist "Young Mungo" - jedoch ein spannendes Meisterwerk, erinnernd an Georg Büchners "Woyzeck" und Ferenc Molnárs "Liliom" – nur aus einer anderen Zeit, in Romanform. Aber ebenso gut und wichtig. Mein Buchtipp des Jahres!

Douglas Stuart: Young Mungo. Roman, Hanser Verlag, Berlin 2023. 415 Seiten, 26 Euro.

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