Benjamin von Stuckrad-Barre ist bislang nicht als politischer Autor aufgefallen. Man kann nicht einmal behaupten, dass er in seinen bisherigen Büchern als an gesellschaftlichen Themen interessiert gewirkt hätte. Mit seinem neusten Roman "Noch wach?" jedoch nimmt er sich eines extrem wichtigen politischen und gesellschaftlichen Themas an – und kann eigentlich nur scheitern.

Im Roman geht es um einen Fernsehsender, dessen Konzept aus Krawall, inhaltsleere Provokation und Hass auf alles vermeintlich oder tatsächlich linke und progressive besteht. Der Ich-Erzähler ist mit dem Chef dieses Senders befreundet, den Chefredakteur dagegen verachtet er. Es ist natürlich, hehe, reiner Zufall, zwinkerzwinker, dass alles an dem Fernsehsender an den Axel-Springer-Verlag erinnert, mit dessen Chef Mathias Döpfner Stuckrad-Barre befreundet ist (oder war). 

Stuckrad-Barre: Der falsche Autor für #metoo

Deshalb ist es natürlich, laut Stuckrad-Barre, ebenfalls Zufall, dass sich im Lauf von "Noch wach?" immer mehr Frauen an den Ich-Erzähler wenden und ihm von sexualisiertem Machtmissbrauch durch den Chefredakteur berichten.

Vermutlich behält der Autor diese ironische Distanz vor allem aus rechtlichen Gründen. Der Ex-"Bild"-Chefredakteur steht zwar im Verdacht, seine Machtposition gegenüber ehemaligen Mitarbeiterinnen sexuell ausgenutzt zu haben, vor einem Gericht verurteilt wurde er dafür aber nicht.

Nun ist das Thema #metoo von höchster Relevanz. Doch Stuckrad-Barre ist der denkbar falsche Autor, um etwas darüber zu schreiben.

Denn im Grunde geht es in seinem Buch, wie in jedem seiner Bücher, um ihn. Ja, man könnte fast sagen, der Ausdruck Ich-Erzähler erfährt bei ihm eine völlig neue Bedeutung, aber das wäre unfair, denn er ist beileibe nicht der einzige ausgesprochen mittelmäßige, weiße Mann, der gnadenlos überschätzt wird. 

Die Missbrauchsopfer bleiben in "Noch wach?" seltsam blass und oberflächlich. Der Erzähler interessiert sich für sie nicht besonders, sie dienen ihm mehr als Ausgangspunkt für gar nicht mal besonders originelle oder gar schlaue Überlegungen, die letzten Endes auch vor allem um ihn selbst und seine Befindlichkeiten kreisen.

Traurig, aber vor allem über sich selbst

So machen ihn die Schilderungen der sexualisierten Übergriffe ganz arg traurig, aber Handlung folgt daraus nicht. Eher hat man den Eindruck, er fühle sich davon überfordert und etwas beleidigt, dass die Realität in seine selbstzufriedene kleine Welt eindringt und er nicht einfach irgendwo schön am Strand sitzen kann (wo er das Buch nach eigener Aussage geschrieben hat, auf den Seychellen, zum Beispiel). 

Solipsistische Eitelkeit kann er also, Einfühlsamkeit oder Empathie gehören indessen nicht zu Stuckrad-Barres Stärken. Wie auch, wenn er sich ständig hinter einer laschen, kraftlosen Ironie versteckt.

Zu einem bösen Sarkasmus reicht es leider auch nicht, weil ihm sowohl stilistisch als auch inhaltlich jegliche Tiefe abgeht. Diesen Umstand versucht er, mit nett klingenden, gewundenen Sätzen zu vertuschen – vergeblich. 

Geradezu ärgerlich ist, welches Bild Stuckrad-Barre von Jugendsprache hat. Seine Figur Sophia, die im Verlauf des Buches eine mehr oder weniger unglaubwürdige Wandlung von der konservativen Vorzeigefrau zur Feministin wider Willen hinlegt, sagt ständig Dinge wie "Yo, Alder".

So hat auch schon vor 20 Jahren kein Mensch gesprochen, jedenfalls nicht außerhalb von den Phantasiewelten der Drehbuchautoren klassistisch-rassistischer Sozialdramen fürs Vorabendprogramm. 2023 aber wirkt es noch angestaubter, etwa so, als ob Stuckrad-Barre auf alten Harald-Schmidt-Sendungen hängengeblieben wäre (für den er früher – natürlich sexistische – Witze geschrieben hat, nebenbei). 

Autorinnen, die besser über #metoo schreiben

Trotz des geradezu überwältigenden Hypes kann man sich "Noch wach?" also getrost sparen. Wer sich für literarische Aufarbeitung von #metoo interessiert: Die österreichische Schriftstellerin Mareike Fallwickl hat bereits 2017 in "Das Licht ist hier viel heller" den fiktiven Schriftsteller Maximilian Wenger beschrieben, der die Erfahrungen einer betroffenen Frau für einen #metoo-Roman verwendet, um ein literarisches Comeback zu feiern. Diese Ähnlichkeit ist allerdings ausnahmsweise mal wirklich Zufall – ganz ohne schale Ironie. 

Es empfiehlt sich in jedem Fall, lieber Fallwickl zu lesen, die auch viel besser schreibt und deren Ironie angemessen beißend und ätzend brennt, anstatt lasche Indifferenz zu kaschieren. Zudem hat die Autorin Nicole Seifert auf Twitter einen Thread gepostet, in dem weitere Bücher von Frauen zu #metoo aufgezählt werden: Mary Adkins "Das Privileg", Vanessa Springora "Die Einwilligung", Antje Rávik Strubel "Blaue Frau" oder Lydie Salvayre "Weine nicht".

 

Benjamin von Stuckrad-Barre, Noch wach?, Kiepenheuer & Witsch, 2023, 384 Seiten, 25 Euro

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Mareike Fallwickl, Das Licht ist hier viel heller, Penguin TB, 2017, 379 Seiten, 12 Euro

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