Am Anfang stand die "Schöpfung" – jetzt die "Erschöpfung". Ein Seher im Zwiespalt mit sich und der Verzweiflung an der Menschheit, Gott als Koloratursopran, der seine Geschöpfe in die Verantwortung über die Welt nimmt, atonale bis verführend harmonische Klänge, Falsett-Gesang und donnerndes Schlagwerk: Die "Apokalypse" von Wilfried Hiller, die am Dienstag beim Musikfest ION in der Nürnberger Sebalduskirche uraufgeführt wurde, ist starker Tobak für die Ohren und das Hirn.

Und doch rund 75 Minuten purer Ausdruck dessen, was geistliche Musik wohl einmal ausmachte, als es noch keine tonalen Konventionen und Hörgewohnheiten gab. Im Einklang mit wohl gewählten eigenen Worten sowie Versatzstücken aus der Bibel und anderen geistlichen Texten, die Stefan Ark Nitsche, ehemaliger Nürnberger Regionalbischof und leidenschaftlicher Dramaturg im Libretto arrangierte, ergab dies ein Gesamtkunstwerk, das seiner Zuhörerschaft wie auch den ausführenden Musizierenden volle Konzentration abverlangte, dadurch aber eine Urtiefe schuf, wie man sie selten in neuer Musik vorfindet.

Höchste Stimmlagen und tiefe Trommeln

Irgendwo konsequent, dass das Textbuch ausgeteilt wurde. So konnte man Countertenor Johannes Euler, der den Seher von Patmos – quasi der "Held" der Geschichte – auch mit starker Mimik und Gestik darstellte besser folgen, wenn er sich im Dickicht aus Voraussagungen, eigenen Interpretationen und der direkten Konfrontation mit Gott – von Anna-Lena Elbert mit flirrend hohen und dynamisch äußerst ausdrucksvollen Tönen eindringlich dargestellt – zu verstricken drohte. Ständig "verfolgt" von den vier Männerstimmen der "Singphoniker", die dem Seher unheilvolles einsagen und das Geschehen vorantreiben.

Es geht in dieser "Apokalypse", die durchaus von Albrecht Dürer inspiriert wurde, nämlich um nichts weniger als Alles. Nämlich um den Weltenbrand, verursacht vom Menschen, der den göttlichen Draht verloren zu haben scheint und mit der Schöpfung umspringt, als wäre sie jederzeit austauschbar. Da hilft dann auch die Frage des Sehers – in Anlehnung an Jesu letzte Worte am Kreuz "Mein Gott, warum hast Du mich verlassen?" nichts mehr. Denn dieser antwortet mit den Worten Luciano de Crescenco aus "Also sprach Bellavista": "Ihr alle seid Engel mit nur einem Flügel. Nur wenn ihr euch umarmt, könnt ihr fliegen". Und wenn der Seher dann mit einem trotzigen "Dies Irae" den Hymnus über das Jüngste Gericht anstimmt, kommen sie tatsächlich – die Reiter der Apokalypse.

In die Stille schallt die Schrille

Immer wieder arbeitet der Komponist mit Stille, die ebenso wichtig zu sein scheint, wie die auskomponierten Vokalsätze, die harmonisch alternieren und immer überraschen. In diese Stille hinein spielt manchmal ein geheimnisvolles Saxophon oder eine schrille Klarinette. Eine Musik, die den Hörer manchmal in einen Trance-Zustand fallen lassen zu scheint, in der er sich in einer tönenden Ursuppe schwimmend wähnt, um ihn wenige Momente später mit dem Bade wieder in die Realität auszuschütten.

Im Gespräch vor der Uraufführung der "Apokalypse" beschrieb Stefan Ark Nitsche seinen Arbeitsprozess mit Hiller als einen sehr organischen, bei dem jeder mit ein bisschen Material, Ideen und Vorstellungen ankommt, man sich dann aber Bälle zuspielt, sie verwirft und plötzlich in ganz andere Richtungen spielt. Das kann dann so kontrastreich und überraschend sein, dass es im Text um blanken Hass geht, sich dem aber eine leise säuselnde Melodie entgegenstellt und karikiert.

Musikalische Experimente

Die drei Trommler des Ensembles "Drumturgia" hatten ein eindrucksvolles Arsenal an Percussioninstrumenten aufgebaut. Donnernd füllten die Schläge auf der riesigen japanischen Odaiko den Kirchenraum. Schmerzhaft gellen die "sechs scharfen Schläge auf ein Vierkantholz, als würden starke Nägel roh durch Fleisch getrieben werden" – so die originale Regieanweisung durch die Stille. Wilfried Hiller – Orff-Schüler – arbeitet gerne mit Schlagwerk, aber experimentiert auch mit der Eigendynamik vom Flügel, wenn er seine Sopranistin in den geöffneten Korpus hinein singen lässt, sodass die Klaviersaiten leise nachhallen von der Schwingung. Oder er verwendet gefüllte Weingläser, die durch stetiges Streichen auf dem Rand zum Klingen gebracht werden.

Am Ende steht eine Art von Versöhnung mit einem vorher zürnenden Gott, der als "Geheimnis" erkannt wird. Dieser – beziehungsweise seine singende Stimme – beendet das lose Gewirr der Töne am Ende dann auch nur mit bewegten Lippen und skandiert damit die Silben "O – Me – Ga". Der Kreis schließt sich, hatten zu Beginn doch die vier Männer den meditierenden Johannes auch mit solchem Gestus in die Aufmerksamkeit gelockt.

Insgesamt ein Stück, das tief religiösen Ausdruck im Text mit einer mitreißenden Musik verbindet, das man sich auf jeden Fall idealerweise auch live ansieht. Nicht zuletzt hatte Dramaturg Nitsche auch ein wachsames Auge darauf, wo im Raum sich die Akteure positionieren und gab auch während der Vorstellung "von der Seitenlinie" kaum merkbare Regieanweisungen.

Die Aufführung wurde vom Bayerischen Rundfunk mitgeschnitten.   

Wilfried Hiller und Stefan Ark Nitsche
Wilfried Hiller und Stefan Ark Nitsche in St. Sebald.

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