Dass es einem wie Stefan Ark Nitsche im Ruhestand langweilig werden könnte, hätte kaum einer für möglich gehalten. Dass der seit dem Jahresende 2020 ehemalige Nürnberger Regionalbischof aber gleich mehrere künstlerische Projekte gleichzeitig am Laufen hat, dann schon eher. Eines davon kann man am 27. Juni live an einem Ort erleben, an dem der Theologe bis vor kurzem regelmäßig auf der Kanzel zu Gast war: Dann erklingt erstmals öffentlich zum Musikfestival ION Wilfried Hillers Werk "Schöpfung – ein klingendes Mosaik". Sein theologischer Ansatz ist – ebenso wie das Stück selbst – ein Wagnis.

Wenig überraschend ist es auch, dass der frisch gebackene Ruheständler in seiner wieder gewonnenen Freizeit seiner Leidenschaft als Dramaturg und Autor frönt, wie vor Beginn des Theologiestudiums. Dem renommierten Komponisten und Carl Orff-Schüler Wilfried Hiller traf er schon 2009, als dieser auf der Suche nach einem Nachfolger für seinen bereits 1995 verstorbenen Librettisten Michael Ende war. "Zu diesem Zeitpunkt war ich schon 25 Jahre auf der Suche nach einem Komponisten, mit dem zusammen ich eine Oper über David machen könnte", erklärt Nitsche. Man habe sich recht schnell angefreundet und sei dann auch das Projekt rund um Nitsches 1994 als Buch erschienene Biografie des König David angegangen.

Stefan Ark Nitsche: Inspiration von Skulpturen von Antje Tesche-Mentzen

Stefan Ark Nitsche war plötzlich der Nachfolger Endes, der einer breiteren Mehrheit als Autor der "Unendlichen Geschichte" oder "Momo" bekannt war. Sieben Jahre hat die Arbeit am "David" gedauert, dessen Ur-Aufführung eigentlich für die ION geplant war, aufgrund der Ensemblegröße und der Coronabedingungen aber derzeit so nicht gezeigt werden kann. Zwischendurch entstanden Liedtexte und kleinere Arbeiten für Hiller. Und jetzt die "Schöpfung", die von Skulpturen von Antje Tesche-Mentzen im Atrium und Garten der Katholischen Akademie in München inspiriert wurden. "Das Spiel des Lichts auf dem großen Brunnenmosaik lässt durch die vielfache Brechung auf der windbewegten Wasseroberfläche goldene Muster über das Schöpfungsmosaik wandern. Daraus wurde Willfried Hillers Musik vom Anfang des Lebens", beschreibt Nitsche dieses "klingende Mosaik."

Blieb die Frage nach dem Text. "Der steht ja eigentlich in der Bibel. Aber mir kam dann plötzlich der Gedanke, dass die Schöpfung an sich doch eigentlich ein großes Risiko ist", erklärt Nitsche. Wenn auf der Welt nicht nur Marionetten herum liefen, sondern die Lebewesen ihre eigenen Schritte machen, dann berge das ein großes Risiko für den Schöpfer. Eventuell sogar, dass diese Welt ihren Schöpfer abschafft.

Jesus und der "Versucher" in der Wüste

Die zweite Inspiration, die dem Libretto zugrunde liegt, lieferte der "Versucher", der Jesus in der Wüste heimsucht. Dieser fragt Gott immer wieder, ob er sich im Klaren darüber sei, was er da eigentlich tue und dass Schöpfung ein großes Wagnis sei. In der Folge reflektieren die Akteure bei ihrem Handeln ständig über das Risiko Schöpfung, musikalisch dargestellt in Form einer Geige für das Göttliche und einen Countertenor für den "Versucher". Es gibt auch ein happy end – allerdings nicht in Form eines Besiegens, sondern der "Versucher" wird letztlich Teil der Schöpfung.

Jedoch nur auf Zeit: Denn jetzt erinnert der "Versucher" an den Brudermord Kains und damit daran, dass Missgunst und Gewalt ebenfalls zur Welt gehören. Am Ende wird die Offenbarung zitiert, "und Gott wird abwischen alle Tränen von ihren Augen, und der Tod wird nicht mehr sein, noch Leid noch Geschrei noch Schmerz wird mehr sein". Der Spannungsbogen endet zumindest mit der Hoffnung, dass die Schöpfung im Frieden Gottes aufgehoben wird.

Stefan Ark Nitsche ist sich bewusst, dass er mit dieser Schöpfungserzählung aus theologischer Hinsicht ins Risiko geht, was die Interpretationen angeht, da es Gott nicht im klassischen, unangreifbaren Bild zeigt. "Allerdings bedarf es eines zweite Nachdenkens über die Allmacht Gottes, wenn ich mir unsere Welt heute anschaue", gibt Nitsche zu bedenken. Biblische Texte sollte man aber nicht als starr, sondern durchaus auch als Antwortversuche auf menschliche Fragen ansehen. Und dabei ist der Mensch schnell in der Position des "Versuchers", der sich fragt, was das Ganze eigentlich soll.

Sabbatical des ehemaligen Regionalbischofs Stefan Ark Nitsche

Das Jahr 2021 als Jahr 1 im Ruhestand sieht der ehemalige Nürnberger Regionalbischof als "Sabbatical", in dem er nicht auf der Kanzel in Erscheinung treten will. Nicht zuletzt, um auch seiner Frau Elisabeth Hann von Weyhern die Bahn frei zu machen, ihr Amt, das sie sich 16 Jahre lang mit dem Ehemann geteilt hat, alleine zu bekleiden. Trotzdem sei ihm durchaus bewusst, dass er als Autor von Texten musikalischer Werke in theologischer Hinsicht die bisher "sicherere Bühne" des Gottesdienstes verlässt und sich der freien Interpretation stellen muss. "Aber es ist doch wie bei Gottes Schöpfung: Ohne Risiko geht nichts."

Viel weiter ausholen will Nitsche dagegen mit seinem aktuellen Romanprojekt, in dem er die Gegenwart und die Zeit der Reformation in Nürnberg spiegeln will, das vor 500 Jahren geistiges und wirtschaftliches Zentrum Europas war. Die Grundfrage lautet: Was passiert mit der Gesellschaft in einer Zeit, in der die alten Ordnungen nicht mehr zu tragen scheinen und niemand ein Patentrezept hat?

Karten für die ION und die Nürnberger Erstaufführung der "Schöpfung" gibt es bei allen Reservix-Vorverkaufsstellen, auf ion.reservix.de oder über die Tickethotline 0911 21 444 88.